Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
Schreibtische in der Nähe einer Toilette lehnte und der Wandbildschirm plötzlich ansprang, von der Berührung aktiviert. Es erschien nur eine Szene mit Kindern auf einem Segelboot, ein privates Foto, das jemand als Hintergrundbild benutzte, aber im Nu stand einer der Aufseher neben ihr, ein dicker Mann namens Leo mit einem unangenehm pfeifenden Atem.
»Was machst du da?«
»Nichts. Ich … ich habe mich bloß an die Kante gelehnt. Ich wollte nicht…«
»Dann laß es auch. Wo ist deine Marke?«
Sie zeigte sie ihm. Er beäugte sie stirnrunzelnd, als ärgerte er sich, etwas tun zu müssen, was vermutlich zu seinen Aufgaben gehörte.
»Erster Tag, was?« knurrte er. Er klang nicht sonderlich besänftigt. »Dann schreib dir eines hinter die Ohren, ein für allemal. Du hast hier gar nichts anzufassen außer den Sachen, die du saubermachst. Das muß klar sein, wenn du die Stelle behalten willst. Es gibt jede Menge andere, die sich freuen würden, das Geld zu verdienen. Du hast hier nichts anzufassen! Los, wiederhol das!«
Erbittert und wütend auf diesen miesen, kleinen Grobian mußte Olga sich zusammenreißen, um sich weiter den äußeren Anschein ängstlicher Unterwürfigkeit zu geben. »Ich habe hier nichts anzufassen.«
»Genau. Merk dir das!« Er drehte sich um und watschelte davon, ein dickleibiger Hüter des Privateigentums und der heiligen Hausordnung.
Erst gegen Ende ihrer Schicht, als die glücklicheren Beschäftigten in den oberen Etagen vielleicht schon einen Streifen Tageslicht an den Rändern ihrer dicht verhängten Fenster zu sehen bekamen, ergab sich für Olga endlich eine Gelegenheit, allein zu sein. Ohne Esthers Erlaubnis schlich sie sich in eine der Toiletten, die sie noch nicht geputzt hatten, und setzte sich in die hinterste Kabine. Da sie damit rechnete, daß Augen und womöglich auch Ohren alles überwachten, was sie tat, streifte sie ihre Hose und Unterhose herunter, bevor sie sich zur Wahrung des Scheins auf die Brille setzte, und sprach ein stilles Dankgebet dafür, daß sie nicht laut reden mußte. Sie subvokalisierte das Codewort, das Ramsey ihr gegeben hatte. Gleich darauf hörte sie seine Stimme im Ohr.
»Alles in Ordnung? Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht.«
Sie verbiß sich ein Lachen. Ich muß bloß arbeiten wie die meisten normalen Menschen, dachte sie bei sich, doch sie sagte nur: »Alles läuft gut. Ich hatte nur bis jetzt keine Gelegenheit, mich zu melden.«
»Ich bin die ganze Zeit mit diesem Knoten verbunden, also wenn irgendwas ist, ruf an! Wirklich, Olga, jederzeit, wenn du mich brauchst!« Er hatte einen beschwörenden, schuldbewußten Ton in der Stimme, der ihr vorher nicht aufgefallen war, als ob er sich Vorwürfe machte, sie in Gefahr gebracht zu haben, wo es doch in Wirklichkeit ihre freie Entscheidung gewesen war.
»Wozu?« fragte sie leicht stichelnd. Sobald man das Subvokalisieren einmal heraus hatte, war es gar nicht so schwer, fand sie, solange man nicht plötzlich erschrak und anfing, laut zu reden. »Wenn ich hier in Gefahr gerate, wollt ihr dann kommen und mich rausboxen?«
Ramseys betretenes Schweigen war beredt. »Sellars möchte mit dir sprechen«, sagte er schließlich. »Aber brich nicht ab, wenn er fertig ist, ich hätte dich gern nochmal.«
Die hauchige Stimme des alten Mannes war unerwartet beruhigend. Was er auch sonst noch sein mochte, dieser Sellars war eindeutig einer, dem solche extremen Situationen nicht unbekannt waren. »Hallo, Frau Pirofsky«, sagte er. »Wir sind alle sehr froh, von dir zu hören.«
»Ich würde vorschlagen, du sagst Olga zu mir. Ich sitze hier mit runtergelassenen Hosen auf dem Klo, da kommt mir ›Frau Pirofsky‹ ein bißchen förmlich vor.«
Sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören. »Einverstanden, Olga. Es ist mir ein Vergnügen, wieder mit dir reden zu können, einerlei unter welchen Umständen. Gab es beim Einstellungsgespräch irgendwelche Probleme?«
»Ich glaube nicht. Es lief alles sehr glatt. Wie hast du das bewerkstelligt?«
»Die Einzelheiten ersparen wir uns lieber. Konntest du deinen Rucksack mitnehmen?«
»Ja. Ich habe ihn im Moment nicht bei mir, aber ich komme bestimmt an ihn ran.«
»Ruf mich an, wenn deine Schicht vorbei ist und du ihn hast. Wir halten dich jetzt besser nicht zu lange auf, deshalb warte ich mit dem, was ich dir noch zu sagen habe, bis dahin. Oh, aber eines noch! Könntest du deine Marke an die Buchse in deinem Hals halten? Mach sie doch kurz mal frei – falls
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