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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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handelte. Trotz ihres grotesken Gangs galoppierten die Pferdewesen in Windeseile heran, und bleischwer legte sich die Apathie auf Paul. Er zog Ben Thompsons Revolver aus der Tasche. Das Ding fühlte sich schwer wie ein Anker an.
    »Javier, sei still!« schrie Martine hinter ihm. »Laß mich nachdenken!«
    Paul ging auf ein Knie und bemühte sich, die Waffe ruhig zu halten. Der erste der Dreads hatte den Fuß des Hangs erreicht. Paul zielte, so gut er konnte, und wünschte sich zum erstenmal in seinem Leben, er wäre auch einer von diesen waffennärrischen Jungen gewesen. Er wartete so lange, wie er sich traute, dermaßen in Schweiß aufgelöst, daß er kaum den Finger am Abzug halten konnte. Als der Reiter keine zwanzig Meter mehr entfernt war, drückte er ab.
    Ob es nun blinder Zufall war oder ein Relikt der ursprünglichen Simulation, die menschliche Teilnehmer bevorzugt behandelt hatte, jedenfalls traf sein Schuß das affenartige Pferd und streckte es zu Boden. Es mußte seinen Reiter unter sich begraben haben, denn dieser erhob sich nicht, als das Tier nach seinem schliddernden Sturz mit zuckenden Beinen liegenblieb. Die anderen Dreadkopien scherten zur Seite aus und schlugen um den Fuß des Hügels einen Bogen, kreischend vor Wut jetzt oder vielleicht auch vor Vergnügen über die Abwechslung. Viele waren mit Gewehren und Revolvern bewaffnet, und Schüsse krachten und Kugeln jaulten über den Hang. Paul warf sich lang hin, und Florimel und T4b folgten seinem Beispiel. Martine jedoch nicht.
    »Was machst du?« schrie er ihr zu. »Runter, Martine, runter!«
    »Na klar«, sagte sie, während die Kugeln zu ihren Füßen durchs Gras pfiffen. »Das hätte ich gleich erkennen müssen.« Sie lief auf den Baum zu. »Auf geweihtem Grund darf normalerweise kein Galgen sein!«
    Entsetzt über die Gefahr, in die sie sich begab, sprang Paul auf und feuerte die paar Kugeln ab, die er noch hatte, um nur ja die Aufmerksamkeit der im Kreis reitenden Dreads von diesem leichten Ziel abzulenken, aber das Glück hatte ihn verlassen: Er meinte zwar zu sehen, wie eine der fackelschwingenden Gestalten im Sattel zurückprallte, aber seine sonstigen Kugeln zeigten keinerlei Wirkung. Er blickte über die Schulter und sah, wie Martine die Henkerschlinge ergriff und sie auseinanderzog, als wollte sie sie für einen besonders dicken Hals herrichten. Goldenes Licht brach daraus hervor. Im Nu war die Öffnung größer als sie und reichte jetzt vom Schlingenknoten bis zum Boden. T4b und Florimel liefen bereits gebückt über den Hügel. Bei diesem Anblick sprengten die Reiter den Hang hinauf, und ihre Schreie schwollen an wie das Gekläffe von Jagdhunden, die ihre Beute gestellt hatten. Er gab seinen letzten Schuß ab, schleuderte den leeren Revolver nach den funkelnden Fackeln und lief auf das Leuchten zu.
    Martine stand wartend auf der Schwelle. Sie griff seinen Arm, und gemeinsam tauchten sie in das wärmelose goldene Licht ein.
     
    Als Paul auf hartem Steinuntergrund aufschlug, dachte er zunächst, ihre Verfolger wären mit ihnen durchgekommen, denn überall flackerten Fackeln.
    Etwas zuversichtlicher gestimmt von der Stille setzte Paul sich auf. Die Fackeln steckten in Wandhaltern an einer langen Steinmauer, so viele, daß sie selbst die Sterne am schwarzen Himmel überstrahlten. Die Mauer war mit Wandmalereien im steifen ägyptischen Stil geschmückt, bunten Darstellungen von Menschen und tierköpfigen Göttern.
    Er stand auf und prüfte tastend, ob er sich irgend etwas gebrochen hatte, fand aber nichts Schlimmeres als abgeschürfte Knie und Löcher im Overall. Neben ihm rappelten sich derweil Martine, Florimel und T4b auf. Die Stille, die im Angesicht der zyklopischen Mauer eine nahezu greifbare Dichte hatte, wurde nur vom Atmen seiner Gefährten unterbrochen.
    »Wir haben’s geschafft«, flüsterte Paul. »Klasse, Martine.«
    Bevor die Gelobte etwas erwidern konnte, trat eine Gestalt um die Ecke, ungeheuer groß, aber leise wie eine Katze. Mit einem Sprung stand das Wesen vor ihnen und blickte auf sie nieder, ein riesiges Ungetüm mit Löwenkörper und Menschenkopf. Obwohl der Sphinx an vielen Stellen grob geflickt war wie eine altertümliche Puppe, rieselte aus mehreren aufgeplatzten Nähten Sand. Seine Augenlider waren zusammengenäht.
    »Ihr entweiht den heiligen Bezirk«, dröhnte er mit einer so tiefen und mächtigen Stimme, daß die Steine davon zu beben schienen. »Dies ist der Tempel des Anubis, des Herrn über Leben und Tod.

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