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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Hasardeur von fliegendem Blei in blutige Fetzen gerissen, und dennoch rannten etliche seiner Doppelgänger, angelockt von dem Lärm, auf das Feuer zu. Einige gingen in dem wilden Kugelhagel zu Boden, aber andere fanden das Spektakel offenbar ungemein lustig und bildeten einen krakeelenden Kreis um die Flammen.
    Das war die Gelegenheit! Paul gab den anderen ein Zeichen, und sie hasteten auf die offene Straße und zu den Eisenbahngleisen, die mitten auf der Front Street verliefen, sehr bemüht, nicht zu lange auf die überwiegend weiblichen Leichen zu blicken, die an die Schienen gefesselt waren. Viel war von ihnen ohnehin nicht mehr zu sehen, denn die Teufel waren offenbar mehrmals mit einer Lokomotive darüber hinweggefahren und hatten zuletzt, des Spiels wohl überdrüssig, die Lokomotive selber angezündet. Deren Überreste standen immer noch auf den Gleisen wie das rußgeschwärzte Gerippe eines großen Meeresungeheuers und boten ihnen kurzfristig Schutz vor zufälligen Blicken in ihre Richtung, doch der Gestank der verstümmelten Leiber trieb sie rasch weiter.
    Sie hatten beinahe schon das sichere Dunkel hinter der Straße erreicht, als Martine plötzlich stehenblieb und sich in Pauls Arm krallte.
    Zwar hopsten die meisten der Dreadmänner jetzt um die Lohe am anderen Ende der Straße, doch das Häuflein der Fliehenden stand immer noch ungedeckt und gut sichtbar da. Paul drohten die Nerven durchzugehen, und er merkte kaum, daß Martine hartnäckig an ihm zerrte.
    »Nicht da lang!« japste sie. »Dorthin, in die Seitenstraße!«
    Er hatte seine Lektion gelernt. Obwohl es gegen seine sämtlichen Instinkte ging, drehte er sich ohne Widerrede um, trabte ein kurzes Stück die Front Street zurück stadteinwärts und bog dann neben einem zweistöckigen Haus, an dessen schwelender Fassade noch ein Schild mit der stolzen Aufschrift »Wright, Beverley and Co.« prangte, in die nördliche Nebenstraße ein. Kaum waren sie von der Hauptstraße herunter, als ein Trupp Reiter aus der Richtung, die sie hatten einschlagen wollen, um die Ecke galoppiert kam, ein Haufen betrunkener Dreads, die auf mutierten Pferden laut brüllend an der im Schatten liegenden Gasse vorbeipreschten, in der Paul und die anderen sich an die Hauswand drückten.
    Die Musik hier war lauter, so als ob sie in einem höllischen Vergnügungspark in Lautsprechernähe ständen, und etwas an den verwackelten Tönen weckte in Paul den Wunsch, auf der Stelle kehrtzumachen und zurück auf die Hauptstraße zu laufen. Seine vernünftigeren Impulse gewannen: Er winkte den anderen, und zum an- und abschwellenden Klimpern des Klaviers eilten sie von der Front Street fort.
    »Mozart«, hauchte Martine. »Er hat mir gesagt, daß er Mozart mag.«
    Paul mußte nicht erst fragen, wen sie meinte.
    Als sie ein Stück die Gasse entlanggehetzt waren, immer bemüht, sich in den schattigen Nischen zu halten, sah Paul schließlich den Pianisten. Der Raum, in dem er spielte, mochte einst das Hinterzimmer eines der Saloons an der Hauptstraße gewesen sein, ein stiller Winkel, wo Cowboys oder Spieler mit Geld in den Taschen sich ungestört mit den Animierdamen der Stadt verlustieren konnten, aber eine Explosion hatte fast die ganze Wand weggerissen, und Ungestörtheit war ohnehin etwas, das der Vergangenheit angehörte. Der Klavierspieler war ein alter Schwarzer, allerdings war seine Farbe derzeit eher grau zu nennen. Er war umringt von torkelnden Dreadduplikaten, die entweder zu betrunken waren, um sich groß zu bewegen, oder die tatsächlich dieser Mozarttravestie andächtig lauschten. Die falschen Töne wurden noch verständlicher, als Paul den beinlosen Pianisten sah, der mit Stacheldraht an seinen Hocker gefesselt worden war und inmitten einer immer größer werdenden Pfütze seines eigenen Blutes saß.
    Jetzt war es Paul, der beinahe ohnmächtig umgekippt wäre und sich von den anderen stützen lassen mußte.
    Sie brauchten etliche Minuten, um geduckt von Haus zu Haus zu huschen, die Haut glühend von der Hitze der Feuer, die Ohren voll von den Schreien der Sterbenden und der um den Tod Flehenden – ein quälend langer Streifzug durch das Inferno. Paul mußte sich zwingen, weiterzugehen. Jedes bißchen schützende Dunkelheit war wie eine Oase des Friedens. Jedes Stück Weg im Freien gab ihm das Gefühl, von hundert Augen gesehen zu werden.
    Gott sei Dank geht das hier schon seit Tagen so, dachte er, während er sich in der schwelenden, verräucherten Ecke eines Mietstalls

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