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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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kann dich nicht hier zurücklassen«, sagte Renie zu ihm. »Und ich kann auch nicht umkehren und meine Freunde ihrem Schicksal überlassen. Kommst du allein zurück?« Die Schultern des Steinmädchens hoben und senkten sich. Renie legte der Kleinen sanft eine Hand auf den Rücken. »Ich verspreche, ich warte, bis du sicher wieder am andern Ufer bist.«
    »Das geht nicht!« jammerte das Steinmädchen. »Ich hab den Rüber-Spruch gesagt! Ich kann nicht zurück.«
    So viele unbegreifliche Regeln! Wenn man eine KI programmieren wollte, schien es ihr mittlerweile, mußte es effektivere Mittel geben, als ihm Märchen beizubringen. »Tja, wenn wir nicht zurück können, müssen wir weiter«, sagte Renie so schonend, wie sie konnte, und nach Kräften bemüht, das Kind ihre eigene Angst nicht merken zu lassen. »Es muß sein.«
    Das Steinmädchen konnte nicht aufhören zu weinen. Renie sah zum dunkel werdenden Himmel auf. »Komm.« Sie zupfte das Mädchen am Arm und versuchte dabei krampfhaft, sich auf Sachen zu besinnen, mit denen sie Stephen immer herumgekriegt hatte, wenn er bockte. »Mach … mach einfach, was ich mache. Ich sing jetzt ein Lied. Du machst genau das, was ich mache, wenn ich einen Vers singe, okay? Schau einfach zu, und wenn ich mich bewege, bewegst du dich auch, ja?« Verdammt, eigentlich sollte ich ein Kinderlied singen, dachte sie, aber so sehr sie sich auch das Gehirn zermarterte, ihr fiel partout nichts Passendes ein. In ihrer Verzweiflung stimmte sie einfach das erste Lied an, das ihr in den Sinn kam, die Erkennungsmelodie einer asiatischen Spielshow, die ihre Mutter früher gern geguckt hatte.
     
»Bist du eine schlaue Maus«,
     
    sang sie,
     
»Komm zu uns ins Sprootie-Haus …«
     
    »Ja, das kannst du schon«, ermunterte sie das Steinmädchen. »Schau, beweg dich einfach so.« Sie sang ganz langsam und betonte dabei den Takt. »Bist du ei- ne schlau- e Maus …«
    Als das kleine Mädchen schließlich aufblickte, stand ihm der Jammer ins Gesicht geschrieben … und noch etwas anderes. Im stillen hatte es die große, inständige Kinderhoffnung, daß Renie das Richtige tat. Daß sie das Unmögliche möglich machte. Daß die vielen kleinen Lügen zur Wahrheit wurden.
    Renie schluckte und fing noch einmal von vorne an.
     
»Bist du eine schlaue Maus,
    Komm zu uns ins Sprootie-Haus!
    Ist das Quiz dir nicht zu schwer,
    Wirst du Sprootie-Millionär!«
     
    Langsam, als watete es durch geschmolzenen Karamel, paßte das Steinmädchen seine Schritte Renies brüchigem, fast tonlosem Gesang an.
     
»Willst du Reichtum ohne Plage,
    Stell dich unsrer Superfrage!
    Wenn du superclever bist,
    Wirst du Sprootie-Kapitalist!
     
    Didaktastisch!
    Pädagenial!
    Sprootie Smart ist infoepochal!«
     
    Renie sang es zu ihrem gemeinsamen Tanz über die Brücke noch sechsmal und wurde dabei immer leiser, je näher sie dem letzten Steinpfeiler kamen, obwohl die nächsten der bleichen Wesen immer noch gut hundert Meter entfernt waren und keinerlei Interesse an ihnen zeigten. Renie ließ sich vorsichtig auf die grasbewachsene Uferböschung gleiten, faßte dann die kleinen, kühlen Hände des Steinmädchens und half ihm hinunterzuspringen. Erst als es neben ihr gelandet war, merkte sie, daß das Kind vor Furcht die Augen ganz fest zugekniffen hatte.
    »Schon gut«, flüsterte Renie.
    Das Steinmädchen sah sich ängstlich um und mußte sich sichtlich beherrschen, nicht gleich wieder loszuweinen. »Wer … wer ist Sprootie?«
    »Bloß so ein blöder … ach, egal. Wir sollten leise sein, damit sie uns nicht hören.«
    »Tecks hören nicht. Tecks gucken.«
    Renie war erleichtert, wenn auch nur geringfügig. »Können wir irgendwas machen, damit sie uns nicht sehen?«
    »Uns nicht bewegen.«
    Jetzt, wo der Fluß hinter ihr war und ein Fluchthindernis darstellte, wuchs Renies Furcht vor den leichenblassen, herumwuselnden Dingern noch mehr. »Wir können nicht einfach hier stehenbleiben. Können wir sonst noch was tun, das hilft, außer uns nicht bewegen?«
    »Uns ganz, ganz langsam bewegen.«
    Renie spähte zu der schattenhaften Stadt hinüber und suchte nach möglichen Wegen zu dem Turm, auf den sich die Aufmerksamkeit der Tecks zu konzentrieren schien. Die Straßen und Häuser waren gleichmäßig grün zugewachsen, als ob sie alle für irgendein verrücktes Gartenexperiment als Spaliere zweckentfremdet worden wären, aber wenn dem so war, dann hatten sie schon lange keine pflegende Hand mehr gesehen, denn die Ecken und Kanten

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