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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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vorsichtig einen Schritt zurück, wie um bereit zu sein, jederzeit die Flucht zu ergreifen.
    »Dringende Angelegenheit. Fräulein Jongleur. Wir gehen nach draußen.« Der traurige Anblick, den er bieten mußte, wurde ihm endlich bewußt. Er versuchte, eine etwas würdevollere Haltung anzunehmen. »’tschuldigung. Es geht mir gesundheitlich nicht gut. Aber ich muß Fräulein Jongleur ihre Lektionen geben – sie muß ihren Unterrichtsplan für heute bekommen. Nur ein paar Minuten, dann bin ich wieder weg.«
    Er schritt die Diele hinunter und bemühte sich dabei, gerade zu gehen.
    Ich bin nicht betrunken, sagte er sich. Das ist es nicht. Ich gehe verdammt nochmal an sämtlichen Fugen aus dem Leim.
    Er klopfte an, wartete, klopfte abermals.
    »Wer ist da?«
    »Ich bin’s«, entgegnete er, dann besann er sich auf die zweifellos mithörenden Ohren. »Herr Jonas. Ich muß Ihnen Ihre Lektionen für heute geben.«
    Die Tür flog auf. Sie hatte ein weißes Nachthemd an, weich, aber undurchsichtig, und hatte ihren Morgenmantel darübergezogen, ohne ihn zuzubinden. Ihre dunklen Haare, unfrisiert und überraschend lang, wallten ihr über die Schultern.
    Engel, dachte er, denn unwillkürlich fielen ihm die Worte des gespenstischen Wesens ein. Du bist wunderschön, wollte er schon sagen, aber konnte sich gerade noch beherrschen und strich sich statt dessen die schweißnassen Haare aus der Stirn. »Ich muß Sie kurz sprechen, Ava.«
    »Paul! Was ist mit dir?«
    »Ich bin krank, Ava.« Er legte den Finger auf die Lippen, um sie zum Schweigen zu ermahnen. »Vielleicht brauche ich ein bißchen frische Luft. Wären Sie so gut, mit mir nach draußen zu kommen, damit wir ihre Aufgaben für heute besprechen können?«
    »Laß mich … Ich muß mich nur noch kurz anziehen.«
    »Keine Zeit«, stieß er heiser hervor. »Ich … Es geht mir wirklich nicht besonders gut. Können Sie mit mir hinauskommen?«
    Sie war erschrocken, aber versuchte, es nicht zu zeigen. »Gut, aber Schuhe ziehe ich mir schnell noch an.«
    Er konnte sich nur mit Mühe beherrschen, sie nicht am Arm den Flur hinunterzuziehen. Zwei der Stubenmädchen standen in der Tür der Glasveranda und taten nicht einmal mehr so, als arbeiteten sie. Als Paul und Ava näherkamen, traten sie zur Seite und schlugen die Augen nieder.
    »Ich bestehe darauf, Herr Jonas«, sagte Ava ihretwegen mit großem Nachdruck. »Sie sehen wirklich sehr schlecht aus. Wenn wir beim Reden eine Runde durch den Garten machen, wird Ihnen das bestimmt unendlich gut tun.«
    Er meinte, die Schockiertheit der Dienstmädchen fast körperlich fühlen zu können, und schämte sich für seine Schülerin. Vor lauter Aufgelöstheit und Verwirrung fiel ihm erst, als sie den Gartenpfad erreichten, wieder ein, daß es sich bei Jongleurs Bediensteten, einerlei was sie sonst sein mochten, nicht um junge Frauen vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts handelte.
    Diesmal beeilte Ava sich nicht, in das Wäldchen zu kommen, sondern ging betont langsam und erkundigte sich dabei fürsorglich nach Pauls Gesundheit, verbunden mit der Ermahnung, nach dem Gespräch mit ihr müsse er unverzüglich eine Tasse Kamillentee trinken und sich ins Bett legen. Erst als sie sich in der vermeintlichen Sicherheit des Pilzrings befanden, warf sie sich ihm an den Hals und drückte ihn so fest, daß er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.
    »O Paul, lieber Paul, wo warst du? Als du gestern nicht kamst, hatte ich solche Angst!«
    Er hatte nicht die Kraft, sie abzuwehren, hatte für kaum etwas mehr die Kraft. Er hatte keinen Plan, wußte keinen Ausweg. Er hätte nicht beschwören können, daß er nicht selber dabei war, verrückt zu werden. »Dein Geisterfreund. Er hat mich besucht. Er hat mir … Kinder gezeigt.«
    »Dann glaubst du mir also?« Sie lehnte sich zurück und betrachtete sein Gesicht, als könnte es sein, daß sie es zum letztenmal sah. »Ja?«
    »Ich weiß immer noch nicht, was ich glauben soll, Ava. Aber ich weiß, daß ich dich hier wegschaffen muß, egal wie.« Ein Druck legte sich auf seine Brust. »Aber ich komme nicht mal selber hier weg. Ich habe gestern versucht, die Insel zu verlassen, und wurde daran gehindert.«
    »Eine Insel?« sagte sie. »Wie seltsam. Sind wir auf einer Insel?«
    Die Aussichtslosigkeit der ganzen Situation ging ihm mit einem Schlag auf. Was bildete er sich eigentlich ein? Meinte er, er könnte ein Mädchen kidnappen und verstecken, das überhaupt noch niemals das Gebäude verlassen hatte, die

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