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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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verschrobenes Hexenhaus aus dem Märchen erwartet – überdimensional vielleicht oder sogar so ausufernd wie die Hauswelt, endlose Pfefferkuchenwände mit Zuckerverzierung –, aber mit der vollkommenen Absurdität des Häckselhauses hatte sie nicht gerechnet.
    Es war gänzlich formlos. Sie sah davon nur silbern schimmernde Formen, so als ob seine Kurven und Winkel von einer unsichtbaren Lichtquelle angestrahlt würden, dünne Sicheln und ebene Flächen, die kamen und gingen, als ob das ganze Ding sich drehte. Aber es schien auch irgendwie … verkehrt herum zu sein. Auf schlaglichtartige Vorspiegelungen eines Außen folgten augenblicklich – oder erschienen gleichzeitig – nahezu unbegreifliche Inversionen, wodurch sich alle begrenzenden Wände in den imaginären Raum hinaus öffneten. Und dennoch erzeugte das undefinierbare Gleißen und Funkeln paradoxerweise auch den Eindruck von etwas Rundem, wirkte das Ganze abgeschlossen und geheim.
    Sie konnte zwar die Brücke nicht mehr erkennen, aber worauf ihre Füße traten, war auf jeden Fall nicht mehr das holperige Pflanzenkonstrukt von vorher. Es gab nur noch das Gefühl einer Brücke, die Idee einer Verbindung zwischen ihr und … dem Ort. Dem Häckselhaus. Und der Nebel wurde dichter.
    Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie die Hand des Steinmädchens nicht mehr fühlte. »Wo bist du?« fragte sie. »Steinmädchen?« rief sie lauter. Keine Antwort. Renie blieb stehen, ging sogar ein paar Schritte zurück und fuchtelte mit der Hand hin und her, aber fand nichts. Mit jagendem Herzen hielt sie inne und meinte, ein schwaches Geräusch wie von einem Kind zu hören, das in einem fernen Zimmer weinte, doch es war vor ihr, nicht hinter ihr.
    Bestürzt und beschämt konnte Renie kaum einen Gedanken fassen. Sie hatte das Mädchen gegen seinen erklärten Willen hierhergeschleift, und jetzt hatte sie es verloren. Sie konnte nicht zurück, auch wenn ihre Instinkte das noch so dringend von ihr forderten.
    Sie schritt weiter voran in die Finsternis. Das Häckselhaus öffnete sich vor ihr und schloß sich dann um sie. Sie war drin.
    Auch das hatte sie schon einmal erlebt, und dennoch kam die erdrückende Leere so unerwartet und erschreckend, daß sie sich zunächst beinahe völlig aufgegeben hätte. Dieser gnadenlos kalte Würgegriff mußte es gewesen sein, was den alten Singh umgebracht hatte, dachte sie in ihrem verzweifelten Bestreben, an so etwas wie Vernunft festzuhalten. Und obwohl sie es schon einmal erlebt hatte, erlebt und überlebt, hatte sie das Gefühl, jetzt ihrerseits nur noch um Haaresbreite von der gänzlichen Auslöschung entfernt zu sein.
    Ich bin drin, begriff sie. Im Betriebssystem. Nicht in einer seiner Schöpfungen – nein, in ihm selbst!
    Doch mit diesem Erkenntnisfunken kam gleichzeitig ein Schock, der beinahe ihren letzten schwachen Kontakt zur Vernunft abgerissen hätte. Ist dies das Gefühl, das es permanent hat? Fühlt es sich so an … der Andere zu sein?
    Als ob diese Einsicht einen schwarzen Kristall zertrümmert hätte, zerbarst damit die Dunkelheit und flog in tausend Stücke auseinander. Bilder durchzuckten sie, manche so schnell, daß sie nur wie ein ununterbrochener Laserstrahl durch ihr Gehirn schossen, andere individuell genug, um wahrnehmbar zu werden, aber nur ganz kurz, so als würde sie durch ein Universum aus zerbrochenen Spiegeln fallen und auf unzählige verschiedene Szenen flüchtige Blicke werfen.
    Stimmen kamen in Hunderten von Sprachen, Kinderstimmen voll Furcht und Schmerz, Erwachsenenstimmen, die vor Schreck und Wut heulten, gequälte Gesichter, Wechselbäder eisiger Kälte und sengender Hitze. Dann wurde der Takt langsamer und gleichmäßiger, und allmählich entstand der normale Eindruck von Raum und Zeit. Ein weißes Zimmer erschien. Helle Lichter leuchteten auf. Tiefe Stimmen brüllten, laut und unverständlich wie das Dröhnen eines mächtigen Flusses, und Gesichter drängten sich an sie heran, gigantisch und verzerrt. Dann gab es eine gewaltige Konvulsion, in der das Universum selbst zu würgen und sich zu erbrechen schien, und die Gesichter sprengten blutbefleckt und schreiend in alle Richtungen davon.
    Die Stimmen kreischten. Weiß und rot. Weiße Wände rot bespritzt. Die tief polternden Erwachsenenstimmen wurden schlagartig schriller. Das Blut wurde ein feiner Sprühnebel in der Luft. Dunkle Gestalten fielen hin und blieben zuckend am Boden liegen.
    Renie war mitten in diesem Horror, drohte darin zu ertrinken, doch er

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