Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
war nicht gegen sie gerichtet. Er war einfach da, und sie war darin, wie ein Schwimmer im Ozean, dessen Kräfte zuletzt erlahmen.
Halt dich an was, dachte sie. Greif dir was. Einen Stock, irgendwas. Du ertrinkst.
Stephen.
Aber in ihrem schwindligen Zustand konnte sie sich nicht gleich erinnern, wer Stephen war, wie er zu ihr stand. War er eines von diesen zerfetzten Gesichtern, die sie da ankreischten? War sie eines?
Mein Bruder. Mein kleiner Bruder.
Sie klammerte sich an diesen Gedanken, als die Furcht auf sie eindrosch und die Finsternis und das Chaos sie durchtobten, hängte sich mit ihrem ganzen Gewicht daran. Sie zwang sich sein Bild vor Augen – Stephen, mit seinen strahlenden Augen und seinen kurzgeschorenen Haaren, die seine Segelohren erst recht hervortreten ließen, mit seinem latschigen Gang, mit dem er ein cooles Teenagerschlurfen nachmachen wollte, aber statt dessen kindlicher denn je aussah. Sie hatte ihn verloren. Dieses Ungeheuer, diese eisige Grauensflut hatte sich ihn gekrallt. Das wollte sie nicht vergessen. Das durfte sie nicht vergessen.
Ich will ihn wiederhaben! Wenn sie einen Mund gehabt hätte, hätte sie es herausgeschrien. Ich werde nicht aufhören, nach ihm zu suchen. Du mußt mich umbringen, genau wie du die andern umgebracht hast.
Die Schwärze stürzte auf sie ein wie eine Eislawine. Die Bilder waren jetzt fort und die scharfen Spitzen des Chaos gefroren zu einer noch viel vernichtenderen, viel unnachgiebigeren Härte.
Stephen, dachte sie. Seinetwegen bin ich hier. Er gehört dir nicht. Es ist mir egal, was du bist, was man dir angetan hat, wie sie dich gebaut oder wie sie dich benutzt haben. Er gehört dir nicht. Keines der Kinder gehört dir.
Die Schwärze wollte sie zermalmen, sie zum Schweigen bringen. Renie fühlte, wie sie zerging, wie sie in eine kalte Verzweiflung versank, die so endlos war wie eine Reise durchs Weltall.
Ich werde nicht aufhören. Es war ein letzter Gedanke – eine Lüge, eine erbärmliche Prahlerei, denn alles, was sie war, hörte in diesem Moment auf.
Und dann verwandelte sich die Schwärze in etwas anderes.
Es war, schien es, nur noch so wenig von ihr übrig, daß sie lange nichts anderes tun konnte als mit geschlossenen Augen ausgestreckt auf dem Rücken liegen und sich zu erinnern versuchen, nicht wer sie war oder wo, sondern warum diese Fragen sie überhaupt interessieren sollten. Erst der ferne Ton eines Weinens zwang sie schließlich, wieder ins Leben zurückzukehren.
Renie schlug die Augen auf und war von Grau umgeben. Zunächst nahm sie es nur als einen vertikalen Schatten wahr, auf der einen Seite von ihr dunkler als auf der anderen. Erst nach längerem verwirrten Überlegen gelang es ihr, sich einigermaßen zu orientieren.
Sie lag auf einem rauhen Pfad, der an einer steinernen Wand verlief und ein bißchen an den Spiralweg erinnerte, auf dem sie den schwarzen Berg hinauf- und wieder hinabgestiegen waren. Doch wie um zu beweisen, daß hier das Gesetz der Umkehrung galt, führte dieser Pfad an der Innenseite eines gewaltigen, kreisrunden Loches herum, das schwarz und leer neben ihr gähnte. Obwohl es so breit war, hatte sie den Eindruck, die Wand gegenüber ganz vage erkennen zu können.
Eine Grube, dachte sie. Ich liege auf einem Weg, der in eine riesengroße Grube hinuntergeht.
Der Brunnen, schoß es ihr im nächsten Moment durch den Kopf. Dahin wollten wir, hat das Steinmädchen gesagt.
Wo kam das Licht her? Renie blickte auf und meinte, in der Düsternis hoch über ihr Sterne zu erkennen, einen runden Ausschnitt, der wohl der Rand des Loches sein mußte. Der Kreis war ungeheuer groß, doch die Hoffnung, demnach müsse sie ganz weit oben sein, erwies sich als Illusion, als sie den Blick an der Wand gegenüber emporwandern ließ. Der Aufstieg zum Rand würde Stunden dauern, auch wenn dieses kolossale Loch in seinen Dimensionen der realen Welt etwas näher kam als vorher der unmöglich hohe schwarze Berg.
Genau! Dies hier ist gewissermaßen die Umkehrung des Berges …, begann sie einen Gedanken, doch da zog das gedämpfte Schluchzen eines Kindes ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich.
Das Steinmädchen. Es ist irgendwo unter mir.
Renie versuchte sich zu erheben, stöhnte, versuchte es noch einmal. Ihr Körper fühlte sich an wie ein nasser Sack, der bei der kleinsten heftigen Bewegung reißen konnte. Ihr Kopf kam ihr viel zu schwer vor, um vom Hals getragen zu werden.
Beim dritten Versuch kam sie schließlich auf die Füße.
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