Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
widerstreitende Gefühle. »Mein Volk hat kein Wort, das so viele Bedeutungen hat wie euer Wort ›Liebe‹, Sam. Ich mag sie sehr gern. Sie fehlt mir sehr. Ich bin in großer Angst und Sorge, weil wir sie nicht finden. Wenn ich sie nie mehr wiedersehen sollte, wäre dadurch mein Leben für alle Zeit kleiner und trauriger.«
    »Klingt mir nach Liebe. Willst du sie heiraten?«
    »Ich würde gern … ein gemeinsames Leben mit ihr versuchen, glaube ich. Ja.«
    Sam lachte. »Du bist vielleicht aus einer andern Kultur, !Xabbu , aber die Singlenummer hast du ziemlich gut drauf. Kannst du es nicht einfach sagen? Du liebst sie, und du willst sie heiraten.«
    Er zog ein finsteres Gesicht, aber der Ärger war nur gespielt. »Na schön, Sam. Es ist, wie du sagst.«
    Sie hatte den Verdacht, daß seine Scherzhaftigkeit nicht sehr tief ging. »Wir werden sie finden, !Xabbu . Sie ist hier irgendwo.«
    »Ich muß glauben, daß es so ist.« Er seufzte. »Ich wollte dir eigentlich die Geschichte vom Allverschlinger erzählen. Sie ist erschreckend, aber sie ist, wie gesagt, auch eine Geschichte der Hoffnung.«
    Sam setzte sich gemütlich hin. »Erzähl.«
    !Xabbu war ein guter Geschichtenerzähler, aktiv und engagiert. Er wechselte bei den verschiedenen Figuren die Stimmlage und untermalte das Geschehen mit ausladenden Gesten und tanzartigen Bewegungen, indem er etwa auf die Füße sprang, um den Gang der Stachelschweinfrau zum Haus ihres Vaters darzustellen, oder gierig die Hände zum Mund führte, um zu zeigen, wie der Allverschlinger alles fraß, was ihm unter die Finger kam. Als er sich hinkauerte und mit der verschreckten Stimme des auf den Unhold wartenden Mantis ausrief: »O Tochter, warum wird es so dunkel, wo doch gar keine Wolken am Himmel sind?«, hatte Sam wirklich das Gefühl, einen Menschen vor sich zu sehen, der von seinen Sünden eingeholt wird.
    Als er geendet hatte, bemerkte sie, daß einige der Märchenfiguren von den umliegenden Lagerplätzen näher gekommen waren, um zuzuhören. »Das war toll, !Xabbu . Aber auch echt gruselig!« Es war nicht das schlichte Märchen gewesen, das sie erwartet hatte. Eine tiefe Bedeutung lag in den unbekannten Bildern, in dem Durcheinander der Motive, und sie wünschte, sie könnte das alles besser verstehen.
    »Die Geschichte lehrt, daß selbst nach der größten Finsternis Licht kommt. Großvater Mantis und seine Sippe überlebten und zogen weiter.« Sein Gesicht wurde lang. »Ich hielt es für meine Aufgabe, sie und damit die Geschichte meines Volkes in der Erinnerung zu bewahren. Ich hielt es für die Arbeit meines Lebens, aber ich habe in Wirklichkeit nichts dafür getan.«
    »Du wirst es tun«, sagte sie, aber !Xabbus zustimmendes Nicken war rein mechanisch. Sie wollte, daß er wieder lebendig wurde, daß er an etwas anderes dachte als an Renie und die schreckliche Lage, in der sie sich alle befanden. Eilig hatten sie es nicht mehr. Sie konnten nirgends mehr hin. »Erzählst du mir noch eine? Magst du?«
    Er zog eine Augenbraue hoch, als argwöhnte er ihre Motive, sagte aber nur: »Ja, aber dann würde ich gern weiter nach Renie suchen. Möglicherweise sind neue Leute eingetroffen, während wir schliefen.« Er blickte auf den Brunnen. »Wenn ich diesen Ort sehe, fällt mir eine andere Geschichte ein, eine der größten Sagen meines Volkes.«
    »Chizz«, sagte sie. »Wovon handelt sie?«
    »Sie handelt wieder von Großvater Mantis, davon, wie der Mond an den Himmel kam … und noch von anderen Dingen. Du wirst sehen, warum ich hier an diesem Ort daran denken muß, neben diesem tiefen Erdloch voller Sterne, die dort im Wasser der Schöpfung schwimmen.«
    »Im Wasser der … Meinst du das im Ernst?«
    »Ich weiß es nicht, aber mir sieht es so aus wie die Bilder, die mir in der Großstadtschule gezeigt wurden, aufgenommen durch die Augen von Teleskopen, die in die Weiten des Weltraums schauen – und auch in zurückliegende Zeiten, wie mir erklärt wurde, da das Licht schon alt sei, wenn es bei uns ankommt. Mir sieht dieser Brunnen aus wie ein Ort, wo Welten entstehen.«
    Ein leichter Schauder überlief Sam. Sie fragte sich unwillkürlich, wie es wohl wäre, in diesem tiefen Loch zu ertrinken, umkreist von leuchtenden Galaxien das Leben auszuhauchen. »Scännig«, sagte sie leise.
    !Xabbu lächelte. »Aber in den Sagen meines Volkes geht es selten um große Dinge, um Kriege der Sterne oder die Erschaffung der Welt, und wenn, dann wird im kleinen davon gesprochen. Wir sind kleine

Weitere Kostenlose Bücher