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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Menschen, weißt du. Wir treten sehr sacht auf, und wenn wir sterben, hat der Wind unsere Fußspuren bald verweht. Selbst Großvater Mantis, der einst das Feuer unter dem Flügel des Straußes stahl und es seinen Leuten gab, damit sie sich nicht im Dunkeln fürchteten, ja, selbst der Mantis, der größte von uns allen, ist nur ein winziges Insekt. Aber er ist auch ein Mensch. Alle Wesen waren damals am Anfang Menschen.« Er nickte, wobei er die Augen schloß, als sammelte er seine Gedanken. »Diese Geschichte fängt tatsächlich mit etwas ganz Kleinem an, wie du sehen wirst. Mit einem Stück Leder.
    Eines Tages ging Großvater Mantis umher, da sah er am Weg ein Stück Leder liegen. Es war ein Stück von einem Schuh – einer Sandale, würdest du vermutlich sagen –, der dem Regenbogen gehörte, seinem Sohn. Es war abgebrochen und liegengelassen worden, vergessen. Aber etwas an dem Schuhstück sprach Großvater Mantis an. Etwas an diesem kleinen, mißachteten Ding erregte seine Aufmerksamkeit, und so hob er es auf und nahm es mit.«
    Im Erzählen fiel alle Besorgtheit und Gedrücktheit von !Xabbu ab. Seine Stimme wurde lauter, seine Hände flatterten durch die Luft wie aufgescheuchte Vögel. Sam bemerkte, daß weitere Flüchtlinge sich ihnen näherten, angezogen von seiner Lebendigkeit an diesem stillen, traurigen Ort.
    »Der Mantis kam an einen Wassertümpel«, fuhr !Xabbu fort, »an dem ringsherum Schilf wuchs, einen verborgenen, fruchtbaren Ort, und er legte das Schuhstück ins Wasser. Es war fast, als hätte er es im Traum befohlen bekommen, dabei schlief er gar nicht und hatte nicht geträumt.
    Großvater Mantis ging davon, doch der Gedanke daran ließ ihm keine Ruhe. Schließlich kehrte er zu dem Tümpel zurück und rief: ›Schuhstück des Regenbogens! Schuhstück des Regenbogens! Wo bist du?‹
    Im Wasser aber war aus dem Schuhstück eine winzige Elenantilope geworden. Du wirst das sicher nicht wissen, aber bei meinem Volk ist die Elen die herrlichste aller Antilopen. Mein eigener Vater verfolgte einst eine so lange und hartnäckig, daß er schließlich die Wüste verließ, die einzige Welt, die er kannte, und in das Flußdelta geriet, wo die Leute meiner Mutter wohnten. Und von Großvater Mantis selbst heißt es, daß er zwischen den Hörnern einer großen Elen reitet, wenn er seine Würde und Macht demonstrieren will.«
    !Xabbu machte den stolzen Gang der Elenantilope in einer Art Tanz nach, den Kopf hoch erhoben, so daß Sam fast die wie eine Krone getragenen Hörner zu sehen meinte. Die Schar der Flüchtlinge wuchs und bildete mittlerweile einen Halbkreis von mehreren Reihen um sie herum. Große Augen hingen wie gebannt an dem kleinen Mann, !Xabbu aber schien sein zunehmendes Publikum gar nicht zu bemerken.
    »Doch diese Elen im Tümpel war nicht groß und stark. Sie war klein und naß und ganz frisch, und sie zitterte, so daß Großvater Mantis bei ihrem Anblick Tränen in die Augen traten. Voll Dankbarkeit sang er ein Loblied, doch er rührte sie nicht an, denn sie war noch zu klein und schwach. Er ging wieder weg, doch als er das nächste Mal kam, entdeckte er im Boden neben dem Tümpel kleine Hufspuren, und vor Freude tanzte er. Da erblickte ihn die Elenantilope und kam zu ihm, als ob er wirklich ihr Vater wäre. Daraufhin holte der Mantis Honig, dunklen, süßen, heiligen Honig, und rieb ihn der kleinen Elen auf die Rippen, damit sie groß und kräftig werde.
    Nacht für Nacht begab er sich zum Tümpel und zu seiner Elen. Nacht für Nacht sang er sie an und tanzte und bestrich sie mit süßem Honig. Zuletzt merkte er, daß er jetzt fortgehen und abwarten mußte, ob die junge Elenantilope wachsen würde. Drei Tage hielt er sich von dem Tümpel fern und auch die drei Nächte, obwohl sein Herz sehr darunter litt. Als er am Morgen nach der dritten Nacht zurückkehrte, trat die Elen im Licht der Sonne mit klackenden Hufen aus dem Wasser. Sie hatte eine stattliche Größe erreicht, und Großvater Mantis freute sich so, daß er ausrief: ›Seht her, da kommt ein Mensch! Ha! Da kommt das Schuhstück des Regenbogens!‹ Denn er war voll von dem Gefühl, daß er dieses lebendige Wesen aus dem mißachteten Stück Leder vom Schuh des Regenbogens geschaffen hatte.
    Aber der Regenbogen und seine Söhne Ichneumon und Jüngerer Regenbogen freuten sich gar nicht, als sie erfuhren, was der Mantis getan hatte. ›Er will uns mit seinen Geschichten hinters Licht führen‹, sprachen sie untereinander, ›und das Fleisch

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