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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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die am Himmel, sondern schienen zu phosphoreszieren, flammten auf und erloschen. Manchmal erglühte auch ein ganz großes Licht tief unten, so daß der Brunnen eine Weile von einem rötlichen Glanz erfüllt war, als ob an seinem Grund eine Supernova geboren worden wäre. Dann wieder wurden die strahlenden Punkte matt und verschwanden schließlich ganz, und eine Zeitlang war der Brunnen völlig schwarz, ein lichtloses Loch in der wüsten Erde.
    »Es ist der Berg umgekehrt«, hatte !Xabbu gesagt, als sie das erste Mal herantraten und Azador ihnen vorauseilte wie ein Mann, der es nicht mehr erwarten kann, nach langer Trennung seine Geliebte in die Arme zu schließen. Sam hatte das erst nicht richtig verstanden, aber mittlerweile leuchtete es ihr ein. Alles in diesem andersten aller Anderländer schien die Verkehrung von irgend etwas zu sein.
    Sie war dankbar, als sie schließlich die Feuer des Zigeunerlagers erspähten. Je länger sie den Brunnen anschaute, vor allem in den Phasen der Verdunkelung, um so mehr erinnerte er sie an eine Höhle, einen Tierbau. Sie konnte sich vorstellen, daß ein Wesen von der Größe des Riesen auf dem Berg, aber noch viel erschreckender, plötzlich aus den unruhigen Tiefen emporstieg. Die Zigeuner jedoch schienen genau wie die übrigen Märchengestalten, die diese Welt bewohnten, nicht die geringste Angst vor dem Brunnen zu haben. Für sie war das Ende der Welt die Gelegenheit zum allgemeinen Wiedersehen und sogar zum Feiern geworden. Als Sam und !Xabbu am Fuß der Steilwand zurück ins Lager gingen, hörten sie Musik und Gesang.
    Felix Jongleur hatte sie bei ihrer Suche nicht begleitet. Sam war das mehr als recht gewesen, allerdings fand sie es merkwürdig, daß so ein griesgrämiger, kalter Mann lieber in dem Zigeunerlager blieb, wo er von lebenden Stereotypen unbeschwerter Lustigkeit umgeben war. Als sie jetzt mit !Xabbu den äußeren Ring des Lagers durchquerte, sah sie ihn allein auf den Stufen eines Wagens sitzen und drei Zigeunerinnen mit langen Schultertüchern beobachten, die zu einer fröhlichen Fiedel tanzten. Sie zog !Xabbu in eine andere Richtung: Im Augenblick waren sie beide zu bedrückt, um diesem schrecklichen alten Mann zu begegnen.
    Azador erblickte sie, wie sie durchs Lager schlichen, und begab sich zu ihnen. Er hatte seine abgetragenen Sachen gegen neue eingetauscht, eine bunte Weste und ein weißes Hemd mit Puffärmeln. Seine schwarzen Stiefel glänzten. Er hatte seine Haare gekämmt und sogar geölt, so daß sie beinahe so einen Schimmer hatten wie die Stiefel. Mit seinem übertriebenen Lächeln und seinem markanten Kinn sah er wie einem billigen Netzfilm entsprungen aus.
    »Da seid ihr ja!« rief er. »Kommt! Es gibt Musik und gute Unterhaltung. Wir werden warten, bis die Madonna zu uns kommt, dann wird sie uns retten.«
    Während er sie zwischen den vielen kleinen Familiengruppen hindurchführte, aus denen sich das Lager zusammensetzte, wunderte sich Sam darüber, wie rasch seine Wut darüber, für einen Zigeuner gehalten zu werden, in ein fast religiöses Zugehörigkeitsgefühl umgeschlagen war. Bei näherer Betrachtung der versammelten Roma, die gelegentlich ihren Blick erwiderten, konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie alle ganz ähnlich wie Azador waren, so extrem … zigeunerhaft, oder wie sie es sonst nennen sollte, daß sie ihr fast schon wie Karikaturen vorkamen. Es gab Männer mit imposanten geringelten Schnurrbärten, die auf kleinen Ambossen Hufeisen hämmerten, und ganz in Schwarz gekleidete alte Frauen, die miteinander tratschten wie Krähen auf der Leitung. Am Rande des Lagers hatten andere mit Glücksspielen begonnen und waren eifrig dabei, alle interessierten Nichtzigeuner aus der Umgebung zu schröpfen, indem sie sie raten ließen, unter welchen der flink hin und her geschobenen Fingerhüte getrocknete Erbsen steckten.
    Sowas kommt vermutlich heraus, wenn man sich Zigeuner nach alten Märchenbüchern ausmalt, dachte sie.
    Azador brachte sie in die unmittelbare Nähe des Brunnens, wo seine eigene Großfamilie sich niedergelassen hatte. Während er ihnen seine Verwandten vorstellte, die meisten zum zweitenmal, eine ganze Parade von Tschels und Tschais und Tschawos mit blitzenden dunklen Augen und blitzenden weißen Zähnen, mußte Sam sich zusammenreißen, um nicht im Stehen einzuschlafen. !Xabbu bemerkte es, nahm sie am Arm und erkundigte sich bei Azador nach einem Platz, wo sie sich hinlegen konnte. Sam wollte einwenden, !Xabbu

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