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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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für sich behalten. Jeder weiß, daß der alte Mantis ein Gauner ist.‹ Also begaben sie sich zu dem Tümpel und sahen dort die junge Elenantilope am Ufer äsen. Sie umstellten sie und töteten sie mit ihren Speeren. Sie waren sehr aufgeregt, denn es war eine schöne, große Elen, und während sie sie zerlegten, lachten und sangen sie.
    Großvater Mantis war auf dem Weg zum Tümpel, als er ihre Stimmen hörte. Er versteckte sich in den Büschen und beobachtete sie, und bald wurde ihm klar, was geschehen war. Zorn und Trauer erfüllten ihn, nicht allein weil sie seine Elen getötet hatten, sondern auch weil sie ihm nichts abgegeben und alles ohne Zeremonie oder auch nur einen Danksagungstanz getan hatten. Doch er fürchtete sich vor ihnen, weil sie zu dritt waren und er ganz allein, und so wartete er im Schilf, bis sie endlich abzogen. Immer noch lachend und singend trugen sie das erbeutete Fleisch davon, eingewickelt in das abgezogene Fell.
    Der Mantis kam aus seinem Versteck und ging zu der Stelle, wo die Elen gestorben war. Der Regenbogen und die beiden Enkel von Großvater Mantis hatten nur ein Teil zurückgelassen, nämlich eines der Organe aus dem Bauch der Elen, die Blase mit der schwarzen, bitteren Galle, die nicht einmal meine Leute verzehren können, obwohl die Not sie sonst lehrt, beinahe alles zu essen. Sie hatten die Gallenblase an einem Busch hängenlassen. Der Mantis war so traurig und wütend, daß er seinen Speer nahm und die Blase damit stieß. Da sprach die Galle darin zu ihm: ›Stoß mich nicht!‹
    Der Mantis wurde noch wütender. ›Ich stoße dich, soviel ich will‹, erklärte er. ›Ich werde dich auf den Boden werfen und auf dich treten. Ich werde dich mit meinem Speer durchbohren.‹
    Da sprach die Galle abermals zu ihm und sagte: ›Wenn du das tust, werde ich herauskommen und dich mit meiner Dunkelheit überschütten.‹
    Doch Großvater Mantis war zu wütend, um Vernunft anzunehmen. Er hob den Speer und durchbohrte die Blase. Wie angedroht kam die Galle heraus, bitter, finster wie eine sternenlose Nacht, und sie überschüttete den Mantis und flog ihm in die Augen und blendete ihn.
    Der Mantis warf sich auf die Erde und rief: ›Helft mir! Ich kann nichts mehr sehen! Die schwarze Galle ist mir in die Augen gekommen, und ich weiß nicht mehr, wo ich hingehe!‹ Aber niemand hörte sein Rufen an diesem abgelegenen Tümpel, und niemand kam ihm zu Hilfe. Der Mantis konnte nur am Boden dahinkriechen und sich blind und hilflos vorantasten. ›Die Hyäne wird mich so finden‹, dachte er, ›oder irgendein anderer hungriger Räuber, und ich werde sterben. Wenn Großvater Mantis auf diese Art ums Leben kommen muß, wäre das nicht traurig?‹
    Doch niemand erhörte ihn, und somit blieb ihm nichts übrig, als weiter durch die Dunkelheit zu kriechen. Als er schließlich so müde und verzweifelt war, daß er nicht mehr weiterkonnte, legte er seine Hand auf etwas. Es war eine Straußenfeder, weiß wie Rauch, leuchtend wie eine Flamme, und das Herz von Großvater Mantis füllte sich mit Hoffnung. Er nahm die Feder und wischte sich die schwarze Galle aus den Augen. Als er die Schönheit der Welt wieder sehen konnte, wischte er sich mit der Feder auch die übrige bittere Galle weg, und diese ging einfach ab und ließ die Feder makellos sauber. Staunend über dieses Wunder und glücklich über seine Rettung warf Großvater Mantis die Feder hoch an den Himmel, wo sie hängenblieb, ein weißer Bogen vor der gallenschwarzen Finsternis. Er tanzte und sang. ›Jetzt liegst du oben am Himmel‹, sprach der Mantis zu der Feder. ›Vom heutigen Tage an wirst du der Mond sein, und du wirst in der Nacht scheinen und allen Menschen Licht spenden, wenn sonst Dunkelheit herrschen würde. Du bist der Mond, du wirst leben, du wirst vergehen, und dann wirst du wieder leben und allen Menschen Licht spenden.‹ Und so war es. Und so ist es.«
    !Xabbu verstummte und senkte den Kopf, als ob er am Ende eines Gebetes Amen sagte. Sam blickte unwillkürlich die vielen Gesichter an, die sie in dem wandellosen Zwielicht umringten, kindliche, erwartungsvolle Gesichter. Die Zuhörer waren noch mehr geworden und drängten sich jetzt um die kleine Erhebung wie besorgte Angehörige, die nach einem Unglück Auskunft über die Opfer haben wollen.
    Sie hatte das Gefühl, daß sie ihm für die Geschichte danken sollte, doch andererseits merkte sie, daß sie wieder nicht richtig mitgekommen war. Was sollte das bedeuten, daß so ein

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