Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
gewußt, daß sie da war – und lächelte, als wollte er einen Schnappschuß fürs Familienalbum nach Hause schicken.
    Dulcy sollte erst später erkennen, daß er genau das tat.
    Vor fassungslosem Grauen klappte ihr der Kiefer herunter, als John Dread, auch John Wulgaru und Johnny Dark genannt, mit geübten Bewegungen die Handgelenke der Frau fesselte, ihr mit Rohrwickelband den Mund zuklebte und dann ein außerordentlich langes Messer hervorholte. Er achtete sorgfältig darauf, daß die Überwachungskamera den bestmöglichen Winkel hatte. Während sie gebannt zuschaute, fühlte Dulcy sich wie gelähmt, außerstande sich abzuwenden, als ob auch sie festgebunden wäre und kein Körperteil mehr gebrauchen könnte außer ihren starrenden Augen.
    Erst als eine sanfte, sentimentale Klaviermelodie einsetzte, nach wenigen Takten begleitet von Streichern und einem künstlichen Chor, und Dulcy begriff, daß sie den Aufnahmen erst hinterher unterlegt worden war, riß etwas in ihr. Mit einem erstickten Schrei sprang sie auf, fiel aber noch zweimal hin, bevor sie ins Badezimmer getaumelt war, um sich zu übergeben.

Kapitel
Am Grund des Brunnens
    NETFEED/WERBUNG:
    Smile – Spaß für Erwachsene
    (Bild: Smile-Spielsalon, Bühnenshow)
    Off-Stimme: Das war heute wieder ein harter Arbeitstag, was? Wäre da ein erotisches Abendentertainment nicht genau das Richtige, ein Erlebnis der Spitzenklasse, bei dem du nicht mal auf die Bequemlichkeit deiner heimischen vier Wände verzichten müßtest? Smile, der Intimclub Nummer eins im Netz, bietet dir ein hochtaktorisches Vergnügen der besonderen Art und völlige Ungestörtheit, dazu alles warum hört es nicht auf tut weh ist so dunkel und kalt und halt nicht nicht nicht weh tun …
     
     
    > »Stephen?« Renie krabbelte an der Felskante entlang und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, zu dem Jungen hinunterzuklettern, doch der Pfad hörte nach wenigen Metern auf und verschmolz mit der Wand der Grube wie erhitztes Glas. »Stephen! Ich bin’s, Renie!«
    Sein Kopf ging langsam hoch, und auf seine verschatteten Augen fiel ein Schimmer von den Sternen hoch oben am Himmel, doch er verriet mit nichts, daß er sie erkannte. Konnte es sein, daß sie sich irrte? Trotz der unnatürlich hellen Sterne war es dunkel hier in der Grube, dunkel wie am späten Abend, und er war viele Meter entfernt.
    Renie kroch am Ende des Pfades hin und her wie ein Leopard, der nicht mehr von einem Ast herunterkam. »Stephen, sag doch was! Geht’s dir gut?«
    Er hatte aufgehört zu weinen. Als das Echo ihres Rufes verklang, hörte sie ihn zitternd ausatmen, daß es ihr einen Stich ins Herz gab. Er war so klein! Sie hatte vergessen, wie klein er war, wie schutzlos der Welt und ihren Grausamkeiten ausgeliefert.
    »Hör zu.« Sie gab sich alle Mühe, die Furcht in ihrer Stimme nicht durchklingen zu lassen. »Ich sehe nicht, wie ich hier runterkomme, aber vielleicht kannst du ja irgendwo hochklettern bis zu einem Punkt, wo ich dich erreichen kann. Magst du mal schauen, Stephen? Bitte?«
    Er seufzte wieder. Sein Kopf fiel vor. »Hier geht’s nirgends rauf.«
    Seine Worte trafen Renie wie ein harter Stoß vor die Brust. Es war seine Stimme, ganz unverkennbar. »Verdammt, Stephen Sulaweyo, red nicht sowas, ehe du’s nicht versucht hast.« Sie hörte den Zorn in ihrer Stimme, einen Zorn, der der Erschöpfung und der Angst entsprang, und sie begriff, daß sie sich beruhigen mußte. »Du machst dir keine Vorstellung, wie lange ich dich schon suche, wo ich überall war, um dich zu finden. Ich hab nie aufgegeben. Du darfst jetzt auch nicht aufgeben.«
    »Niemand hat mich gesucht«, sagte er dumpf. »Niemand ist gekommen.«
    »Das stimmt nicht! Ich hab’s versucht! Immerzu hab ich’s versucht und versucht.« Tränen traten ihr in die Augen, und die ohnehin schon undeutliche Szene verschwamm vollends. »O Stephen, du hast mir so sehr gefehlt.«
    »Du bist nicht meine Mutter.«
    Renie erstarrte und beugte sich weit über den tiefen Abgrund vor. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Hatte sein Gehirn etwas abbekommen? War er der Meinung, daß Mama noch lebte? »Nein, bin ich nicht. Ich bin deine Schwester Renie. Du erinnerst dich doch an mich, nicht wahr?«
    Er dauerte eine Weile, bevor er antwortete. »Ich erinnere mich an dich. Du bist nicht meine Mutter.«
    Wie gut funktionierte sein Gedächtnis noch? Vielleicht hatte er eine Schutzphantasie ausgesponnen, in der ihre Mutter noch am Leben war. Würde er vor

Weitere Kostenlose Bücher