Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
Sie hing schlaff an dem Pfeiler, aber streckte die Hände aus, als flehte sie die andere an, nicht wegzugehen. Der einzige Ton auf der Datei war das unablässige gedämpfte Rauschen des Verkehrs, das darauf hindeutete, daß die Kamera näher an der Straße als an dem aufgenommenen Geschehen war.
Es war schwer zu erkennen, was als nächstes passierte, und noch schwerer zu verstehen, wieso irgendwer sich die Mühe machte, es auf diese armselige Weise festzuhalten. Die Bildqualität war katastrophal, als ob jemand mit einem technischen Trick Bildmaterial gekapert hätte, das von einer Sicherheitskamera mit einem schlechten Korrekturchip stammte. Warum? Was hatte das alles zu bedeuten?
Die größere Gestalt beugte sich über die kleinere und hielt dabei etwas in der Hand, das nur einen Moment lang im Licht von oben hell aufschien. Eine Flasche? Ein Messer? Ein gefalteter Zettel? Die kleinere Figur gestikulierte heftig, wie beschwörend, aber Dulcys beklommenes Gefühl angesichts der Szene wurde ein wenig durch die Tatsache gelindert, daß sie keinerlei Fluchtversuch unternahm.
Die größere Figur kniete sich neben die kleinere und zog sie so dicht heran, daß es wieder so schien, als wären sie im Liebesakt oder wenigstens beim Vorspiel. Eine ganze Weile – zwei Minuten Laufzeit auf der Datei, aber Dulcy kam es noch länger vor – waren die beiden schattenhaften Gestalten verschmolzen. Ab und zu löste sich wieder eine Hand und bewegte sich träge, als winkte sie der fernen Kamera oder einem abfahrenden Zug. Einmal streckte sich die Hand ganz weit aus, wohl so weit es ging. Die gespreizten Finger schlossen sich langsam wie eine am Abend zugehende Blume, eine in ihrer Schlichtheit beinahe schöne Bewegung.
Nach vielen Minuten stand die größere Person schließlich auf. Die kleinere saß nach wie vor am Pfeiler, doch bevor Dulcy mehr erkennen konnte, brach die Aufnahme ab.
Mit einem sauren Geschmack im Mund starrte Dulcy auf ihr Pad. Es war unmöglich, genau zu sagen, was sich da zugetragen hatte, und wahrscheinlich mußte sie stundenlang mit dem Optimierungsgear daran arbeiten, bevor sie auch nur einen Verdacht äußern konnte. Aber was sie letztlich auch tat, sie sollte es mit ausreichend Zeit und auf ihrem eigenen System tun. Es war Irrsinn, hier vor Dreads enthüllten Geheimnissen zu sitzen – besser alles kopieren und dann nach Gutdünken damit verfahren.
Aber sie konnte nicht widerstehen, noch ein paar Dateien zu öffnen, einfach um zu sehen, ob alles, was Dread so sorgfältig unter Verschluß hielt, genauso undurchsichtig war wie der Streifen eben. Sie wählte ein paar aus und sah sich dann zuerst eine Datei an, die »Nuba 8« hieß.
Die Bilder in Nuba 8 waren viel schärfer, obwohl auch sie anscheinend von einer Überwachungskamera heruntergeladen worden waren, die in diesem Falle das Treppenhaus eines großen Büro- oder Wohngebäudes filmte, wie es schien, ebenfalls bei Nacht. Die Szene wurde von Scheinwerfern beleuchtet, und die Gestalt einer Frau, die mit der Handtasche unterm Arm und ihrem Schlüsselpad in der Hand aus der Glastür kam, war gut zu erkennen. Sie war jung, vielleicht in Dulcys Alter, dunkelhaarig, schlank. Sie hielt auf der untersten Stufe an, wühlte in ihrer Handtasche und holte einen Zylinder heraus, der wie eine chemische Verteidigungswaffe aussah, doch noch während sie das tat, blickte sie erschrocken auf. Ein Schatten huschte vor ihr vorbei, flink wie eine Fledermaus; im nächsten Moment war die Treppe leer. Das Bild sprang zur nächsten Einstellung, die jetzt von einer anderen Kamera in einer Parketage im Untergeschoß kam, doch die Frau, die von einer unscharfen Gestalt in dunkler Kleidung darauf zugeschubst wurde, war eindeutig dieselbe, auch wenn ihr Gesicht von Entsetzen verzerrt war.
So sehr dieser kurze Horrorstreifen sie verstörte – war das Dreads häßliches, scheußliches Geheimnis, daß er Live-Mitschnitte von Morden sammelte? –, war Dulcys Abscheu vor sich selbst noch größer als vor dem, was sie sich anguckte.
Das paßt, dachte sie. Zum erstenmal seit Monaten interessiere ich mich für einen Typen, und da steht der auf so einen gräßlichen Scheißdreck. Gott sei Dank hah ich nicht mit ihm …
Die Frau wurde zu Boden gestoßen. Auf dieser Datei gab es keinen Ton, aber Dulcy mußte nichts hören, um zu wissen, daß die Frau schrie. Dann blickte der Mann, der sie auf den Betonboden geworfen hatte, nach oben in die Kamera – er hatte die ganze Zeit über
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