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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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die ihr statt dessen vielleicht vergönnt gewesen wären. Sie konnte schließlich den Endpunkt ihrer Suche von fast jeder Stelle im weiteren Umkreis sehen – der schwarze Turm beherrschte die ganze Gegend so vollkommen wie ein mittelalterlicher Dom seine Stadt und die umliegenden Felder.
    Drei Tage ohne die Stimmen, ohne die Kinder. Seit den fernen, schrecklichen Tagen, als Aleksander und das Baby gestorben waren, hatte sie sich nicht mehr so verwaist gefühlt.
    Und dabei kann ich mich nicht mal mehr richtig daran erinnern, wurde ihr bewußt. Eine große Leere, mehr ist davon nicht übriggeblieben. Wie ein Loch, und mein Leben seitdem besteht nur aus Kleinkram, den ich in dieses Loch hineinwerfe, um es vollzumachen. Aber ich kann es nicht fühlen.
    Sie hatte es nie gefühlt, wurde ihr klar – nicht ganz, nicht richtig. Selbst jetzt war es ein einziges unfaßbares Dunkel hinter einem Schirm aus erklärtem Nichtwissenwollen, einer dünnen Wand, die sie von dem grauenhaften Nichts abschottete, grauenhaft wie die unendliche Weite des leeren Weltraums.
    Wenn ich es jemals rausgelassen hätte, sagte sie sich, wäre ich jetzt tot. Ich dachte, ich wäre stark, aber so stark ist niemand. Ich habe es mir vom Leib gehalten.
    »Seit der Fertigstellung der Intracoastal Barrier«, sagte die Tourleiterin gerade, »wurden viele tausend Hektar Wasserwege, die der Verlandung und der zunehmenden Versalzung zum Opfer gefallen waren, in ihren ursprünglichen Zustand zurückgeführt und für zukünftige Generationen erhalten.« Sie nickte, als ob sie persönlich jeden Morgen aus dem Bett gestiegen wäre, sich mit Sonnencreme eingeschmiert, ihre Gummistiefel angezogen und die Barriere aufgeschüttet hätte.
    Aber schön ist es doch, dachte sich Olga, selbst wenn alles bloß ein Bluff ist. Das Boot brummte durch ein Feld leuchtend violetter Wasserhyazinthen. Die Art, wie kleine Vögel ohne jede Hast vor ihnen beiseite paddelten, ließ vermuten, daß sie sich inzwischen seit Generationen an diese Störung gewöhnt hatten. Die Sumpfzypressen rückten dichter zusammen. Die Sonne hatte sich im Osten eine volle Handbreit über den Mississippi-Sund und den Golf dahinter erhoben, doch das Licht drang noch nicht allzu tief durch die Bäume und ihre halbhohe Nebeldecke. Die Dunkelheit zwischen ihnen machte den Eindruck, als schliefen sie.
    »Ja«, sagte die männliche Hälfte des Akademikerpaares auf einmal, »aber wurden durch die … dings, diese Intracoastal Barrier, nicht fast alle Sumpfgebiete, die es schon gab, völlig zerstört?« Er wandte sich seiner Frau oder Freundin zu, die sich bemühte, interessiert zu blicken. »Weil, das Unternehmen, dem das alles gehört, hat den Lake Borgne da drüben komplett ausbaggern lassen. Er war nur wenige Meter tief, und dann haben sie einen Durchstich zum Meer gemacht, die Verankerung für die Insel, wo der Firmensitz drauf ist, in den Boden getrieben und so weiter.« Sein dünnes Gesicht wirkte ein wenig herausfordernd, als er die Tourleiterin ansah. Olga vermutete, daß er Ingenieur war, einer, für den die Chefetage gewöhnlich der Feind war. »Und, klar, als Gegenleistung mußten sie das, was noch übrig war, halbwegs in Schuß bringen und einen netten kleinen Naturpark daraus machen. Aber die Fischwelt drumrum hat zum Großteil dran glauben müssen.«
    »Bist du Umweltschützer oder sowas?« fragte ihn der Engländer direkt.
    »Nein.« Er wehrte energisch ab. »Ich … ich verfolge bloß die Nachrichten.«
    »Die J Corporation mußte gar nichts tun«, erklärte die Fremdenführerin leicht indigniert. »Sie hatte die Genehmigung, im Lake Borgne zu bauen. Es war alles legal. Sie wollte einfach …«, schnöde abgebracht von ihrer gewohnten Litanei bewegte sie sich auf unsicherem Grund, »… sie wollte einfach etwas zurückgeben. Den Mitmenschen ein Geschenk machen.« Sie schaute sich nach dem jungen Bootsführer um, der die Augen verdrehte, aber dann ein wenig aufs Gas drückte. Sie passierten die ersten Zypressenstümpfe, kegelige Inseln, die durch das dunkle Wasser stießen wie Miniaturausgaben des Berges, der durch Olgas Träume geisterte.
    Weiter komme ich nicht, dachte sie. Ich habe den Turm erreicht, aber das ist alles Privatgelände. Jemand meinte sogar, das Unternehmen, dem er gehört, hätte ein komplettes stehendes Heer. Keine Führungen, keine Besucher, kein Einlaß. Sie seufzte, während das kleine Boot durch die Zypressen glitt und ein Schleier aus Nebel und gebrochenem Licht sie

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