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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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umhüllte.
    Das Ganze glich in der Tat einer Wasserkathedrale, wie die Prospekte behauptet hatten, einer riesigen Halle mit Säulen und Behängen, denn die mit Moos drapierten Zypressen sahen aus wie das Standbild einer Fließbewegung, und bis auf die schmale Kielwasserlinie des Bootes war das Wasser glatt wie eine gespannte Trommel. Es war beinahe vorstellbar, daß sie nicht nur dem direkten Blick der Sonne entrückt waren, sondern auch der linearen Zeit, daß sie in ein Jahrtausende zurückliegendes Weltalter versetzt worden waren, in dem noch keines Menschen Fuß die weiten amerikanischen Kontinente betreten hatte.
    »Seht mal!« Der angeregte Tonfall der Tourleiterin war sorgfältig darauf kalkuliert, die Stimmung wie mit der Nadel anzustacheln. »Ein verlassenes Boot! Das ist eine Piroge, eines der flachen Boote, mit denen früher Trapper und Fischer hier durch den Sumpf gefahren sind.«
    Olga drehte sich gottergeben zu dem Wrack des kleinen Wasserfahrzeugs um, zwischen dessen Spanten die Farbtupfer der Hyazinthen aussahen wie die Initialen einer illuminierten Bibel. Es war malerisch schön. Zu schön.
    »Alles Staffage«, flüsterte der junge Akademiker seiner Begleiterin zu. »Bis vor zehn Jahren oder so war das hier überhaupt kein Sumpf. Den haben sie erst künstlich angelegt, als sie mit dem Lake-Borgne-Projekt fertig waren.«
    »Es war ein hartes Leben für die Menschen, die im Sumpf ihr Auskommen finden mußten«, fuhr die Tourleiterin fort, ohne den Mann zu beachten. »Es gab zwar in der Gegend hin und wieder einen wirtschaftlichen Aufschwung, wenn der Absatz für Felle oder Zypressenholz gut war, doch die Flauten dauerten meistens länger. Bevor die J Corporation hier das Naturschutzgebiet Louisianische Sümpfe schuf, war es eine aussterbende Lebensweise.«
    »Sieht nicht so aus, als ob heute hier allzu viele Leute ein Auskommen finden würden«, meinte der Engländer und lachte.
    »Gareth, laß die Schildkröte in Ruhe!« sagte seine Frau.
    »O doch, es gibt durchaus noch Menschen, die in der althergebrachten Art ihren Lebensunterhalt verdienen«, entgegnete die Führerin eifrig, erfreut über das passende Stichwort. »Das werdet ihr auf unserer letzten Station sehen, wenn wir zum Sumpfmarkt kommen. Die alten Gewerbe und Handwerke sind nicht vergessen worden, sie wurden vor dem Verfall bewahrt.«
    »Wie ein totes Schwein in Alkohol«, sagte der mutmaßliche Ingenieur leise. Ein solches Talent für bildliche Vergleiche hätte Olga ihm gar nicht zugetraut.
    »Oho!« Die Tourleiterin konnte sich dem Rechtfertigungsdruck nicht länger entziehen. »Charlerois Familie zum Beispiel kommt hier aus der Gegend, nicht wahr?« Sie wandte sich dem jungen Bootsführer zu, der ihren Blick mit unendlicher Müdigkeit erwiderte. »Bist du nicht hier in der Nähe geboren?«
    »Hm-hm.« Er nickte und spuckte über die Seite. »Und guck, was aus mir geworden ist.«
    »Ein Bootsführer im Sumpf«, sagte die Tourleiterin triumphierend.
    Als sie wieder dazu überging, sich in aller Ausführlichkeit über den Rotschulterbussard, den Brillensichler, den Schlangenhalsvogel und andere Tiere mit und ohne Flügel zu verbreiten, die den rekonstruierten Sumpf bewohnten, ließ Olga ihre Gedanken träge schweifen, träge wie die Bahn durch die Entengrütze, die das letzte Boot vom Vortag gezogen hatte und der sie mit nur minimalen Abweichungen folgten. Ein Vogel, der sogleich als Rohrdommel identifiziert wurde, machte ein Geräusch, wie wenn ein Hammer auf ein Brett schlägt. Die Zypressen wurden lichter, der Dunst verzog sich.
    Sie glitten aus dem Hain und blickten auf den drohend emporgereckten schwarzen Finger Gottes, der den Horizont hinter dem Pflanzenteppich des Sumpfes beherrschte.
    »Herr im Himmel«, sagte die Engländerin. »Gareth, sieh doch nur, Liebling.«
    »Bloß das olle Hochhaus«, erwiderte der Junge, während er den Daypack nach weiteren Essensvorräten durchwühlte. »Ham wir schon gesehen.«
    »Ja, das ist der J Corporation Tower.« Die Fremdenführerin klang so stolz auf das ferne Gebäude wie vorher auf die Intracoastal Barrier. »Ihr könnt das von hier aus nicht sehen, aber die Insel im Lake Borgne beherbergt eine ganze Stadt. Sie hat einen eigenen Flughafen und eine eigene Polizei.«
    »Die machen da praktisch ihre eigenen Gesetze«, erklärte der Akademiker seiner Partnerin, die sich gerade mit einem Taschentuch die Stirn abtupfte. Er machte sich nicht mehr die Mühe zu flüstern. »Der Typ, dem das gehört,

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