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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Motel, weit weg von zuhause, machte ihr plötzlich einen Druck in der Brust, so daß sie am liebsten geweint hätte. Sie wollte aber nicht weinen, und darum sagte sie statt dessen: »Ich hab Hunger.«
    »Du hast noch dein Brot von vorher, du hast nur einmal abgebissen. Hier hast du noch ein Glas Saft…« Dann ging ihre Mutter mit ihr in das Zimmer, wo sie aufgewacht war, und ein Weilchen war es wieder besser. Nachdem sie einen Pappteller mit dem Brot und ein paar Rosinen vor Christabel hingestellt hatte, holte Mami eine Tüte Kekse aus ihrer Handtasche und gab Christabel zwei und zwei dem Jungen, der schnell danach grapschte, als ob ihre Mami es sich anders überlegen und sie ihm wieder wegnehmen könnte.
    »Wir Erwachsenen müssen uns noch eine Zeitlang unterhalten«, sagte sie. »Ich möchte, daß ihr Kinder hier drinbleibt und Netz guckt, okay?«
    Der Junge sah sie einfach an wie eine Katze, aber Christabel folgte ihr an die Tür. »Ich will heim, Mami.«
    »Wir fahren bald heim, Herzchen.« Als sie die Tür aufmachte, war die Stimme von Christabels Papi zu hören.
    »Das leuchtet mir nicht ein«, sagte er gerade. »Wenn das Netzwerk Kindern schadet und dieses Tandagoreding bei ihnen auslöst, wieso soll dann der Junge in der Lage sein, on- und offline zu gehen, ohne daß … ihm was passiert?«
    »Zum Teil deswegen, weil ich mit dem Sicherheitssystem auf meine besondere Art umgehe, um das zu ermöglichen«, antwortete Herr Sellars. »Aber es kommt noch ein Faktor dazu. Das System scheint beinahe eine … eine Affinität zu haben, ja, das ist das richtige Wort. Eine Affinität zu Kindern.«
    Ihre Mami, die zugehört hatte, merkte plötzlich, daß Christabel immer noch neben ihr in der Tür stand. Ein Erschreckeblick huschte über ihr Gesicht, der Du-lieber-Gott-Blick, den Christabel schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte, das letzte Mal, als sie sorgfältig die scharfen Scherben eines zerbrochenen Weinglases vom Küchenboden aufgehoben und in beiden Händen zu ihren Eltern gebracht hatte.
    »Geh schon, Schätzchen«, sagte ihre Mutter und schubste sie beinahe zurück in das Zimmer mit dem gräßlichen Jungen. »Ich komme in einer Weile nach euch schauen. Iß dein Brot. Guck Netz.« Sie machte die Tür hinter sich zu. Christabel war schon wieder zum Weinen zumute. Meistens mochte es ihre Mutter nicht, wenn sie Netz guckte, nur wenn etwas kam, das Mami und Papi ausgesucht hatten, weil es pettagorisch wertvoll war.
    »Ich esses, wenn du’s nich wills, Tussi«, sagte der Junge hinter ihr.
    Sie drehte sich um und sah, daß er das Brot schon in der Hand hatte. Nach den vielen Bädern, zu denen ihre Mami ihn gezwungen hatte, waren sogar seine Fingernägel sauber, aber auch wenn er noch so oft in die Wanne stieg, sie wußte genau, daß er immer noch voll von unsichtbaren Keimen war. Schon bei dem Gedanken, ihr Brot jetzt noch zu essen, schauderte ihr.
    »Kannst es haben«, erwiderte sie, ging langsam zu ihrem Bett und setzte sich auf die Kante. Der Wandbildschirm war nicht sehr groß, und das einzige, was auf dem Kinderkanal lief, war ein blödes chinesisches Spiel, wo die Leute so rumliefen und den Mund ganz verkehrt bewegten, so daß es gar nicht zu ihrem Reden paßte. Sie starrte darauf und fühlte sich leer und einsam und traurig.
    Der kleine Junge aß ihr Brot auf und dann, ohne zu fragen, auch ihre Rosinen und Kekse. Christabel war nicht einmal böse deswegen – es war komisch, jemand so essen zu sehen, so als ob er noch nie im Leben was gegessen hätte und nicht wüßte, ob er je wieder was bekommen würde. Sie fragte sich, warum er so einen Hunger hatte. Sie wußte, daß Herr Sellars unten in seinem Tunnel jede Menge abgepackte Mahlzeiten gehabt hatte, und er war ein netter Mann. Er hätte dem Jungen nicht verboten, davon zu essen. Es war nicht zu begreifen.
    »Wase gaff so, mu’chita?« fragte er, einen ganzen Keks im Mund.
    »Nichts.« Sie wandte sich wieder dem Wandbildschirm zu. Die Chinesen stellten sich gerade zu einem großen Turm auf, um an etwas heranzukommen, das hoch in der Luft hing. Der Turm stürzte zusammen, und einige der Leute mußten zum lauten Jubel des Publikums weggetragen werden. Christabel wünschte, ihre Eltern würden kommen und ihr sagen, daß es soweit war, nach Hause zu fahren. Es gefiel ihr nicht mehr, wie alles war. Sie warf dem Jungen einen verstohlenen Blick zu. Er leckte die Krümel von dem Pappteller ab. Das war echt widerlich, aber in ihr kam noch ein anderes Gefühl

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