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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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auf.
    »Wenn wir daheim sind«, sagte sie plötzlich, »vielleicht… vielleicht gibt dir meine Mama dann was zu essen. Das du mitnehmen kannst, gelt?«
    Er sah sie an und schüttelte den Kopf, als ob sie etwas Dummes gesagt hätte.
    »Is nix mit ’eimgehn, chica. Sind wir auf Flucht. Is vorbei mit Mamapapahaus für dich, für immer, m’entiendes?«
    Sie wußte, daß er log, wußte genau, daß er das bloß sagte, um ihr Angst einzujagen, aber trotzdem mußte sie weinen. Und noch schlimmer wurde es, als ihre Mami hereinkam und fragte, was los sei, und als Christabel es ihr erzählte, da sagte Mami nicht, daß es eine Lüge war, sagte nicht, daß sie jetzt auf der Stelle heimfahren würden, kein Grund zum Weinen, schimpfte nicht mit dem gräßlichen Jungen. Sie sagte gar nichts, setzte sich einfach zu Christabel aufs Bett und drückte sie. Eigentlich hätte es davon besser werden müssen, aber es wurde nicht besser, kein klitzekleines bißchen.

Kapitel
Lauschen auf das Nichts
    NETFEED/MODERNES LEBEN:
    Virtuelles Totengedenken – und die Toten sind dabei
    (Bild: Familie und Verstorbener lachend beim Leichenschmaus)
    Off-Stimme: Das Bestattungsinstitut Funebripro aus Neapel hat die neueste Entwicklung in der Trauertechnologie bekanntgegeben – ein virtuelles Totengedenken, bei dem sich die Hinterbliebenen mit ihren verstorbenen Lieben unterhalten können. Dem Institut zufolge kann man eine Reihe von sogenannten »Lebendkopien« anfertigen und diese dann zu einer überzeugend echten Simulation der entschlafenen Person, wie sie im Leben war, synthetisieren.
    (Bild: Geschäftsgründer Tintorino di Pozzuoli)
    Di Pozzuoli: »Eh, das ist eine tolle Sache. Wenn einem liebe Menschen wegsterben, so wie uns mein guter Opa, dann kann man sie trotzdem zu einem guten Teil bei sich behalten. Man kann sie besuchen, auch wenn sie verschieden sind, geistige Gemeinschaft pflegen, könnte man sagen. Es ist, wie wenn man ein Fernrohr in den Himmel hat, nicht wahr?«
     
     
    > Auf dem Berg fast gestorben zu sein, war eigentlich schlimm genug gewesen. Doch jetzt wurde Sam Fredericks, nachdem sie todmüde eingeschlafen war, obendrein von den bizarrsten und heftigsten Schreckensbildern ihres Lebens geplagt.
    Der überhaupt nicht enden wollende Albtraum überflutete sie so real mit Grauen und Einsamkeit und Verwirrung, daß irgendwann selbst diese Seelenfolter auf paradoxe Weise so langweilig wurde wie eine hundert Jahre dauernde Fahrt hinten im Auto ihrer Eltern. Die einzige Abwechslung von der niederschmetternden Monotonie der Angst waren die kleinen Phantome, flink und wachsam wie Vögel, die sich schließlich vor ihr aus der langen Dunkelheit herausschälten, als ob sie eine qualvolle, sinnlose Prüfung bestanden hätte und jetzt dafür belohnt werden sollte. Sie konnte sie nicht sehen, aber sie fühlte sie überall, jedes so zart und unstofflich wie ein ätherischer Hauch. Sie hätten beinahe Elfen sein können, bildschöne Zauberwesen, wie einem der Netzmärchen ihrer Kindheit entsprungen. Geister vielleicht. Was sie auch sein mochten, sie gaben ihr endlich ein Gefühl der Erleichterung und des Friedens. Sie hätte sie gern genommen und an sich gezogen, aber sie waren alle empfindlich wie Schmetterlingsflügel, wie eine zitternde Pusteblume: Ein fester Griff hätte sie zerstört.
    Als sie irgendwann doch aus diesem endlos scheinenden Traum auftauchte, war Sam Fredericks’ erster bewußter Gedanke – wie bei jedem Erwachen seit jenem Tag –, daß Orlando tot war. Er war nicht mehr nur vom Tod gezeichnet (ein alltäglicher Schatten, vor dem sie die Augen zu verschließen gelernt hatte), er war tot. Fort. Er kam nicht wieder, nie mehr. Keine neuen Geschichten, keine neuen Erinnerungen. Kein Orlando mehr.
    Diesmal aber währte die tiefe Traurigkeit nur, bis sie die Augen aufschlug und das silberdurchwobene Nichts erblickte, das sie umgab. Die Überraschung verwandelte sich in Entsetzen, als !Xabbu ihr beherrscht, doch mit erschütterter Miene erzählte, daß Renie verschwunden war.
     
    »Aber was ist passiert? Das scännt so mega mega mega mäßig.« Wenigstens eine Stunde schien vergangen zu sein, und nichts hatte sich verändert. Sam hatte nicht zu denen gehört, die in der wetterlosen, statischen Welt gewesen waren, der Renie den Namen »Flickenland« gegeben hatte; für sie war das erstaunlichste an diesem umhüllenden silbergrauen Dunst die schlichte Tatsache seiner offenbar unbegrenzten und unveränderlichen Beständigkeit.

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