Outlaw - Child, L: Outlaw - Nothing to Lose (12 Reacher)
marschierte weiter. Von der fünfzig Meter breiten Lücke hielt er weiten Abstand. Dort konnte er zu leicht entdeckt oder überfahren werden. Stattdessen wandte er sich nach Westen, um auch den Wohnkomplex zu umrunden, als wären beide Rechtecke ein einziges zusammenhängendes Hindernis.
Gegen Mittag lag er weit südlich in Deckung und hatte dort die Rückseite der Recyclinganlage vor sich. Der Wohnkomplex links von ihm lag etwas näher. Weit dahinter im Nordwesten war ein kleiner grauer Fleck auszumachen. Ein niedriges Gebäude oder eine Gruppe von Gebäuden in fünf bis sechs Meilen Entfernung. Undeutlich. Vielleicht an der Straße. Vielleicht eine Tankstelle oder eine Raststätte oder ein Motel. Vermutlich außerhalb des Gemeindegebiets von Despair. Auch als Reacher die Augen zusammenkniff, konnte er keine Einzelheiten erkennen. Also konzentrierte er sich wieder auf das, was sich vor ihm befand. In dem großen Chalet rührte sich nichts. Er sah die Tahoes ihre Runden drehen und behielt die Lastwagen auf der weit entfernten Straße im Blick. Sie bildeten jetzt einen fast ununterbrochenen Strom. Hauptsächlich Tieflader, aber auch Sattelschlepper mit Containern und einige Kastenwagen. Sie fuhren ins Werk und wieder heraus und hinterließen eine lange Spur aus Dieselabgasen, die bis zum Horizont reichte. Die Fabrik stieß Rauch, Flammen und Funken aus. Ihr Lärm wurde durch die Entfernung gedämpft, aber aus der Nähe musste er ohrenbetäubend laut sein. Die Sonne stand hoch am Himmel, und der Tag war heiß geworden.
Reacher blieb liegen, beobachtete und horchte, bis es ihm langweilig wurde; dann marschierte er nach Osten weiter, um sich die Kleinstadt von der anderen Seite anzusehen.
Es war helllichter Tag, weshalb er vorsichtig blieb und sich nur langsam bewegte. Zwischen der Recyclinganlage und der Stadt selbst lag ein ungefähr drei Meilen breiter Streifen unbebauten Geländes. Reacher durchquerte ihn in gerader Linie, wobei er darauf achtete, reichlich Abstand zur Straße zu halten. Am frühen Nachmittag traf er wieder dort ein, wo er um sechs Uhr morgens gewesen war – diesmal jedoch nicht nördlich, sondern genau südlich der Kleinstadt, wo er keine Geschäftshäuser, sondern eine Wohnsiedlung vor sich hatte.
Die hübschen Einheitshäuser waren preiswert und zweckmäßig erbaut: holzverkleidete ebenerdige Ranchhäuser mit Dächern aus kanadischen Dachpappeschindeln. Manche waren gestrichen, andere lasiert. Manche besaßen Garagen, andere nicht. Manche standen auf eingezäunten Grundstücken, andere hatten als Begrenzung nur niedrige Hecken. Die meisten verfügten über Satellitenschüsseln, die wie ein Regiment erwartungsvoll erhobener Gesichter nach Südwesten ausgerichtet waren. Hier und da sah man Menschen. Überwiegend Frauen, ein paar Kinder. Einige wenige Männer. Sie waren mit Autos unterwegs, arbeiteten im Garten, bewegten sich langsam. Die Teilzeitbeschäftigten, vermutete Reacher, die heute kein Glück gehabt hatten.
Er bewegte sich auf einem Hundertmeterbogen von links und rechts, von Ost und West, um den Blickwinkel zu wechseln. Aber was er sah, veränderte sich nicht sonderlich. Häuser in einem seltsamen kleinen Vorort, eng an die Kleinstadt angebunden, aber weit von allem anderen entfernt, von schier endlosem Ödland umgeben. Darüber ein hoher, ebenfalls schier endloser Himmel. Und im Westen die Rockys, die eine Million Meilen weit entfernt zu sein schienen. Reacher begriff plötzlich, dass Despair von Menschen erbaut worden war, die aufgegeben hatten. Sie waren über den Hügel gekommen, hatten den fernen Horizont gesehen und auf der Stelle alles hingeschmissen. Sie hatten einfach nur ein Lager aufgeschlagen und waren geblieben. Und ihre Nachkommen lebten noch immer hier und hatten Arbeit oder keine, ganz wie es dem einzigen großen Arbeitgeber am Ort beliebte.
Reacher verspeiste seinen letzten Schokoriegel und trank sein restliches Wasser. Mit dem Absatz scharrte er eine Grube in den Sand, in der er die Einwickelpapiere, die Plastikflaschen und den Müllsack vergrub. Dann verließ er seinen Platz hinter dem Felsen und arbeitete sich etwas weiter in Richtung Siedlung vor. Der von der Anlage herüberkommende gedämpfte Lärm nahm allmählich ab. Vermutlich war bald Feierabend. Links voraus stand die Sonne schon sehr tief. Ihre letzten Strahlen beleuchteten eben noch die fernen Berggipfel. Die Temperatur sank merklich.
Die ersten Autos und Pick-ups kamen fast zwölf Stunden nach ihrer
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