Outlaw - Child, L: Outlaw - Nothing to Lose (12 Reacher)
Meilen mit ihrem Rennrad fährt.
Was also?
Das lässt sich nur auf eine Weise feststellen.
Er raffte Stoff an Hüfte und Schulter zusammen und wälzte die Leiche auf die Seite. Aus dem Abstand seiner Hände schloss er, dass sie ungefähr einen Meter fünfundsiebzig groß, und schätzungsweise fünfundsechzig Kilo schwer war – also doch wohl eher ein Mann. Eine Marathonläuferin wäre viel leichter gewesen, vermutlich unter fünfzig Kilo. Er zog weiter an dem Stoff, bis die Leiche von der Seite auf den Rücken plumpste. Dann spreizte er die Finger und fing wieder beim Kopf an.
Ein Mann, gar kein Zweifel.
Die knochige Stirn fühlte sich faltig an. Kinn und Oberlippe waren mit einem stoppeligen Drei- oder Viertagebart bedeckt. Kehle und Wangen waren glatter.
Ein junger Mann, fast noch ein Junge.
Die Wangenknochen waren ausgeprägt, die Augäpfel trocken und hart wie Murmeln. Die eingeschrumpelte Gesichtshaut war leicht sandig, obwohl nicht viele Sandkörner in den Poren hafteten. Mund und Lippen waren innen und außen trocken. Die Halssehnen traten überdeutlich hervor. Der junge Mann hatte kein Gramm Fett und kaum Fleisch auf den Knochen.
Verhungert und verdurstet, dachte Reacher.
Beide Knöpfe des Polohemds waren geöffnet. Keine Brusttasche, dafür war auf der linken Brustseite irgendetwas eingestickt. Darunter lagen kümmerliche Brustmuskeln und harte Rippen. Die Hose saß in der Taille locker. Kein Gürtel. Die Schuhe waren irgendwelche Sportschuhe mit Klettverschlüssen und dicken Waffelsohlen.
Reacher wischte sich die Hände an seiner Hose ab, dann tastete er die Leiche von unten nach oben nach einer Wunde ab. Diese Suche führte er wie ein gewissenhafter Sicherheitsbeamter auf einem Flughafen durch. Als er mit einer Seite fertig war, wälzte er den Toten wieder auf den Bauch und suchte dort weiter.
Er fand nichts.
Keine Schnittwunden, keine Schussverletzungen, kein angetrocknetes Blut, keine Blutergüsse, keine Prellungen, keine Knochenbrüche.
Die Hände waren klein, fast zierlich, aber an einigen Stellen mit Hornhaut bedeckt, die Fingernägel teilweise abgebrochen. Keine Ringe an den Händen. Kein Brillant am kleinen Finger, kein Klassenring, kein Ehering.
Reacher kontrollierte die Hosentaschen, zwei vorn, zwei hinten.
Keine Geldbörse, kein Kleingeld, keine Schlüssel, kein Handy. Nichts, gar nichts.
Er ließ sich auf die Hacken zurücksinken und starrte zum Himmel hinauf, als könnte er die Wolken durch Gedankenkraft dazu zwingen, sich zu teilen und etwas Mondlicht durchzulassen. Aber das geschah nicht. Die Nacht blieb rabenschwarz. Er war nach Osten unterwegs gewesen, war hingefallen und hatte sich dann umgedreht. Folglich blickte er jetzt nach Osten. Er stemmte sich hoch und stand auf. Machte eine Vierteldrehung nach rechts, sodass er nach Norden schaute. Er fing an, mit langsamen kleinen Schritten zu gehen, wobei er sich darauf konzentrierte, eine gerade Linie einzuhalten. Er bückte sich, tastete mit beiden Händen den Sand ab und suchte vier kopfgroße Steine zusammen. Richtete sich wieder auf und ging weiter … fünf Meter, zehn, fünfzehn, zwanzig.
Er fand die Straße. Der verdichtete Sand ging in mit Teer gebundenen Rollsplit über. Er benutzte seinen Zeh, um den Fahrbahnrand zu markieren. Dann bückte er sich, legte drei der Steine zusammen und den vierten oben darauf, als wollte er im Gebirge ein Steinmännchen als Wegweiser bauen. Anschließend machte er kehrt und lief zurück, wobei er seine Schritte zählte. Fünf Meter, zehn, fünfzehn, zwanzig. Dann machte er halt, ging in die Hocke und tastete den Boden vor sich ab.
Nichts.
Reacher bewegte sich mit ausgestreckten Armen in der Hocke weiter und suchte den Sand ab, bis seine rechte Hand die Schulter der Leiche berührte. Er sah zum Himmel auf. Weiterhin dicht bewölkt.
Hier gibt’s nichts mehr zu tun.
Er stand wieder auf, wandte sich nach links und stolperte durch die Dunkelheit nach Osten in Richtung Hope weiter.
13
Je näher er der Gemeindegrenze von Hope kam, desto mehr ließ Reacher sich nach links in Richtung Straße treiben. Hope war nicht allzu groß, und er wollte nicht daran vorbeilaufen. Wollte nicht ewig weiterlaufen, vielleicht bis ganz nach Kansas zurück. Aber er verringerte den Abstand so allmählich, dass er schätzungsweise nur noch eine Meile vor sich hatte, als er auf das Bankett stieß und den Rollsplitt unter seinen Füßen spürte. Die Uhr in seinem Kopf sagte ihm, dass es kurz vor Mitternacht
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