Owen Meany
Schuldige hätte den gestohlenen
Baseball mit ins Theater gebracht!
[334] »›Wenn es nach mir ginge‹«,
sagte Mr. Fish ungehalten, »›müßte jeder Narr, der mit einem ‘Fröhlichen
Weihnachten’ auf den Lippen herumläuft, mit seinem eigenen Pudding gekocht und
mit einem Stechpalmenzweig im Herzen begraben werden.‹«
Ich sah, wie Mr. Morrison bei jedem Wort die Lippen bewegte – da er
keinen Text zu lernen brauchte (als Geist der zukünftigen Weihnacht), hatte er
den ganzen Text von Scrooge auswendig gelernt. Was hatte er von dem mörderischen Ball gehalten, der meine Mutter so spektakulär umgehauen
hatte? Hatte er gesehen, wie Mr. Chickering ihr um des Anstands willen die
Beine zusammenlegte?
Kurz bevor Owen Meany den Ball geschlagen hatte, mußte meine Mutter
jemanden auf den Zuschauerbänken erkannt haben; ich erinnerte mich daran, daß
sie jemandem zuwinkte, ehe der Ball sie traf. Mr. Morrison konnte es nicht
gewesen sein, da war ich sicher; seine mürrische Anwesenheit rief niemals eine
so spontane, herzliche Begrüßung wie ein Zuwinken hervor – diesen griesgrämigen
Postboten begrüßte man nicht mal mit einem kurzen Kopfnicken.
Doch wer war es, dem meine Mutter zugewinkt hatte, wem gehörte das
Gesicht, das sie als letztes gesehen hatte, das Gesicht, das sie in der Menge
erkannt hatte, und vor dem sie im Moment ihres Todes die Augen schloß?
Erschaudernd versuchte ich mir vorzustellen, wer das gewesen sein könnte – wenn
es nicht meine Großmutter war, und auch nicht Dan…
»›Ich trage die Kette, die ich während meines Lebens geschmiedet
habe‹«, sagte Marleys Geist zu Scrooge; obwohl ich meine ganze Aufmerksamkeit
dem Publikum widmete, wußte ich beim Rasseln von Marleys Ketten, an welcher
Stelle des Theaterstücks wir angelangt waren.
»›Die Menschheit wäre mein Geschäft gewesen! Das allgemeine Wohl
wäre mein Geschäft gewesen! Barmherzigkeit, Versöhnlichkeit und Liebe, alles
das wäre mein Geschäft gewesen! [335] Alles, was
ich in meinem Gewerbe tat, war nur ein kleiner Tropfen Wasser im weiten Ozean
meines Geschäfts!‹«
Erschaudernd stellte ich mir vor, daß es mein Vater gewesen war, auf der Holzbank –, sie hatte meinem Vater zugewinkt, in dem Moment, in dem sie getötet wurde!
Ohne jede Vorstellung davon, wie ich ihn erkennen sollte, begann ich, die
vorderste Reihe auf der linken Seite abzusuchen; ich ging das ganze Publikum
durch, Gesicht für Gesicht. Aus meiner Perspektive, hinter der Bühne, waren die
Gesichter der Zuschauer alle gleichermaßen ruhig, und ihre Aufmerksamkeit war
nicht auf mich gerichtet; die Gesichter waren mir zumindest teilweise fremd,
und – besonders in den hinteren Reihen – kleiner als die Gesichter auf den
Baseball-Sammelkarten.
Die Suche war sinnlos; doch in diesem Moment begann ich mich wieder
an damals zu erinnern. Und während ich von meiner Position hinter der Bühne aus
die weihnachtlichen Gesichter meiner Mitbürger musterte, konnte ich die
Holzsitze jenes Sommertages einen nach dem anderen wieder besetzen – Reihe für
Reihe, konnte ich mich langsam an einige der Baseballfans erinnern, die
dagewesen waren. Mrs. Kenmore, die Frau des Metzgers, und ihr Sohn Donny, ein
Kind mit Gelenkrheumatismus, dem das Baseballspielen nicht erlaubt wurde; sie
waren bei jedem Spiel da. Sie schauten auch jetzt zu, hörten wie Mr. Kenmore
seinen Part als Geist der diesjährigen Weihnacht niedermetzelte; doch ich
konnte sie in ihrer kurzärmeligen Sommerkluft sehen, mit ihren von der Sonne
verbrannten Nasen – sie saßen immer ziemlich weit unten, weil Donny nicht sehr
gelenkig war und Mrs. Kenmore Angst hatte, er könne durch die Latten fallen.
Und da war auch Mr. Earlys Tochter Maureen – der nachgesagt wurde,
sie habe in die Hose gemacht, als Owen Meany sich an der Rolle des Geistes der
zukünftigen Weihnacht versuchte. Sie war heute abend da, wie jeden Abend, und
beobachtete die vergeblichen Versuche ihres Vaters, aus Marleys Geist einen
King Lear zu [336] machen. Sie verehrte ihren
Vater, und gleichzeitig verachtete sie ihn, denn er war ein fürchterlicher Snob
und überschüttete sie mit unverdientem Lob und einer atemberaubenden Liste seiner Erwartungen für ihre Zukunft; allermindestens würde
sie eines Tages promovieren – und wenn sie ihre eigenen Träume tatsächlich
verwirklichen sollte und eines Tages ein Star auf der Leinwand werden würde,
dann nur nach zahlreichen Triumphen im »richtigen«
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