Owen Meany
Es
waren nur wenige Leute darin, und niemand außer Dan stieg in Sawyer Depot aus dem
Zug, wo wir ihn sofort mit einem Hagel von Schneebällen begrüßten. So müde er
auch war, er spielte immer mit.
Vorher sangen meine Mutter und Tante Martha Weihnachtslieder;
gelegentlich stimmte auch meine Großmutter ein. Wir Kinder kannten meist die
erste Strophe der Lieder; bei den weiteren Strophen konnten meine Mutter und
Tante Martha dann wetteifern, wer von beiden im Kirchenchor der
Kongregationalisten mehr gelernt hatte. Meine Mutter gewann dabei immer; sie
wußte jedes Wort von jeder Strophe, so daß wir – im Verlauf eines Liedes – von
einem bestimmten Punkt an gar nichts mehr von Großmutter und immer weniger von
Tante Martha hörten. Zum Schluß sang dann meine Mutter die letzten Strophen
allein.
»Was für eine Verschwendung, Tabby!« meinte Tante Martha immer. »Du
verschwendest wirklich dein Gedächtnis – weißt all die Strophen, die nie jemand singt!«
»Wozu brauch ich sonst mein Gedächtnis?« fragte meine Mutter ihre
Schwester; die beiden Frauen lächelten einander zu – meine Tante Martha war
begierig auf den Teil des Gedächtnisses meiner Mutter, der von meinem Vater
erzählen konnte. Was Martha am phänomenalen Gedächtnis meiner Mutter für
Weihnachtslieder störte, war, daß sie diese letzten Strophen solo [328] singen konnte; selbst Onkel Alfred
hielt bei dem, was er gerade tat, inne – nur, um der Stimme meiner Mutter zu
lauschen.
Ich weiß noch – es war bei ihrer Beerdigung – wie Rev. Lewis Merrill
zu meiner Großmutter sagte, er habe die Stimme meiner Mutter zweimal verloren. Das erste Mal, als Martha heiratete, denn von da an
verbrachten die beiden Mädchen die Weihnachtsferien in Sawyer Depot – meine
Mutter übte zwar noch immer die Weihnachtslieder mit dem Chor, aber an dem
Sonntag, an dem der Weihnachtsvespergottesdienst stattfand, war sie auf Besuch
bei ihrer Schwester. Das zweite Mal verlor Pastor Merrill die Stimme meiner
Mutter, als sie zur Christ Church überwechselte – und dieses Mal für immer.
Doch ich hatte ihre Stimme erst am Weihnachtsabend 1953 verloren, als die
Stadt, in der ich geboren wurde und aufgewachsen war, mir so fremd vorkam;
Gravesend am Weihnachtsabend war völlig neu für mich.
Natürlich war ich froh, daß ich etwas zu tun bekam. Obwohl ich jede
Probe von Ein Weihnachtslied gesehen hatte – einschließlich der Generalprobe – war ich besonders froh, daß die letzte
Aufführung den ganzen Weihnachtsabend einnehmen würde; ich denke, Dan und ich
wollten beide an diesem Abend möglichst viel zu tun haben. Nach der Aufführung
hatte Dan eine Feier für die Schauspieler organisiert – und ich verstand, warum
er das gemacht hatte: Er wollte jede Minute bis Mitternacht ausfüllen, und auch
die Zeit danach, damit er nicht an die Zugfahrt nach Sawyer Depot denken mußte
(und daran, wie meine Mutter im warmen Haus der Eastmans auf ihn wartete). Ich
konnte mir gut vorstellen, daß auch den Eastmans dieser Abend schwer zu
schaffen machte; nach den ersten Strophen würde Tante Martha Mühe mit den
Weihnachtsliedern haben.
Dan hatte geplant, die Feier in unserem Haus in der Front Street
abzuhalten – und auch das verstand ich: Er wollte, daß meine Großmutter genauso
beschäftigt war wie er. Natürlich hätte sich Großmutter bitterlich über die
Feiernden beklagt – und auch über [329] eine so
zusammengeschusterte Gästeliste, angesichts der unterschiedlichen
Persönlichkeiten und sozialen Ränge in Dan Needhams Schauspielertruppe; doch
immerhin wäre sie beschäftigt gewesen. Nun, sie weigerte sich; Dan mußte sogar
regelrecht betteln, daß sie überhaupt zu seiner Aufführung kam.
Zuerst versuchte sie es mit allen möglichen Ausflüchten – sie könne
doch Lydia auf keinen Fall allein lassen, Lydia sei krank, sie habe Probleme
mit der Lunge oder mit den Bronchien, und es sei schlichtweg unmöglich, daß
Lydia zu einem Theaterstück ging; überdies, führte Großmutter an, wo doch
Weihnachten sei, habe sie Ethel freigegeben, damit die ihre Verwandten besuchen
konnte (Ethel würde über die Feiertage nicht da sein), und Dan wisse doch
sicher, wie furchtbar es für Lydia war, wenn man sie mit Germaine allein ließ.
Dan entgegnete, er habe immer gedacht, Germaine sei eigens dafür
eingestellt worden, sich um Lydia zu kümmern. Ja, nickte Großmutter, das sei
schon richtig – dennoch sei dieses mürrische, abergläubische Mädchen keine gute
Gesellschaft
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