Owen Meany
Vision haben wir alle. Es
ist nur ein schlechter Traum, Owen.«
Doch Dan Needham warf Mr. Merrill einen verständnislosen Blick zu,
als sei ihm eine solche Vision völlig fremd; er war sich überhaupt nicht
sicher, ob es wirklich »natürlich« war, wenn man seinen eigenen Namen auf
seinem eigenen Grabstein sah. Mr. Fish starrte Rev. Lewis Merrill an, als
erwarte er noch mehr »Wunder« wie bei dem Krippenspiel, das er erst kürzlich
zum ersten Mal miterlebt hatte.
Im Puder auf dem Schminktisch war der Name OWEN MEANY – so
wie er ihn selbst geschrieben hatte – noch immer deutlich sichtbar. Ich deutete
darauf. »Owen«, sagte ich, »guck doch, das hast du selbst geschrieben – heute
abend. Du hast also schon vorher daran gedacht – an deinen Namen, meine ich.«
Doch Owen Meany starrte mich nur an; er starrte mich nieder. Dann
starrte er so lange auf Dan, bis der zu Mr. Fish sagte: »Spielen wir noch die
letzte Szene und bringen das Ganze hinter uns.«
Dann starrte Owen auf Mr. Merrill, bis der sagte: »Ich bring dich
jetzt nach Hause, Owen. Du solltest nicht länger hier sitzen und warten, bis
sie dich vor den Vorhang rufen, mit Gott weiß wie hohem Fieber.«
Ich fuhr mit ihnen; die letzte Szene von Ein Weihnachtslied fand ich sowieso langweilig – nach dem Geist der zukünftigen Weihnacht wird die
Geschichte zum reinen Schmalz.
Owen zog es vor, durch das Seitenfenster in die Dunkelheit zu
starren statt auf die beleuchtete Straße vor uns.
»Du hast eine Vision gehabt, Owen«,
wiederholte Pastor Merrill. Ich dachte, es war sehr freundlich von ihm, sich so
um ihn zu bemühen und ihn nach Hause zu fahren – wo Owen doch niemals [346] Kongregationalist gewesen war. Mir fiel auf, daß
Mr. Merrills Stottern nachließ, wenn er jemandem direkt helfen konnte, obschon
Owen auf die Hilfe des Pfarrers undankbar reagierte – er hielt mürrisch an
seiner »Vision« fest, ganz so, wie er mir gegenüber oft aufgetreten war: wie
der typische, niemals zweifelnde Prophet. Er hatte seinen eigenen Namen auf
seinem eigenen Grabstein »gesehen«; die ganze Welt, nicht nur Pastor Merrill,
würde sich schwertun, ihm das auszureden.
Mr. Merrill und ich saßen im Auto und sahen zu, wie er über die
verharschte Auffahrt lief; draußen brannte Licht für ihn, und noch ein anderes
Licht war an – in seinem Zimmer – doch ich war schockiert, als ich sah, daß
seine Mutter und sein Vater nicht mal am Weihnachtsabend aufgeblieben waren,
bis er nach Hause kam!
»Ein ungewöhnliches Kind«, meinte der Pastor vorsichtig, als er mich
nach Hause fuhr. Ohne mich zu fragen, in welches meiner beiden »Zuhause« er
mich bringen sollte, fuhr Mr. Merrill zu unserem Haus in die Front Street. Ich
wollte eigentlich zur Schauspielerfeier, die Dan in Waterhouse Hall
veranstaltete, doch Mr. Merrill war schon losgefahren, ehe mir einfiel, wo ich
hinwollte. Dann dachte ich, ich könne ja schnell mal hineinschauen, ob
Großmuttter schon zu Hause war oder ob Dan sie doch dazu überreden konnte, bei
der Feier das Tanzbein zu schwingen – wenn ihr der Sinn danach stand. In dem
Moment, als ich die Tür öffnete, wußte ich, daß Großmutter nicht daheim war – vielleicht wurden die Schauspieler in der Stadthalle immer noch vor den Vorhang
geklatscht; vielleicht war Mr. Merrill doch schneller gefahren, als es den
Anschein gehabt hatte.
Ich atmete die Luft des alten Hauses tief ein; Lydia und Germaine
mußten beide fest schlafen, denn selbst jemand, der im Bett liest, verursacht
ein paar leise Geräusche – und das Haus war so still wie ein Grab. In diesem
Augenblick hatte ich auch den Eindruck, daß es ein Grab war; das Haus flößte
mir Furcht ein. Ich wußte, daß Owens alarmierende »Vision« – oder was immer es [347] gewesen war – mir zugesetzt hatte, und ich stand
kurz davor, das Haus zu verlassen und die Front Street hinunterzulaufen bis zum
Gelände der Gravesend Academy (zu Dans Lehrerwohnung), als ich Germaine hörte.
Ihre Stimme war kaum zu vernehmen, denn sie hatte sich in dem
Geheimgang versteckt, und was herausdrang, war kaum mehr als ein Flüstern; doch
da es im Haus so still war, hörte ich sie.
»Gütiger Gott, hilf mir!« sagte sie. »Um Gottes willen, lieber Gott – hilf mir doch!«
Also gab es doch Diebe in Gravesend!
dachte ich. Die Mitglieder des Kirchenvorstands hatten gut daran getan, das
Gemeindehaus abzusperren. Weihnachtsräuber hatten unser Haus geplündert!
Germaine hatte sich im
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