Owen Meany
hatte – und daß Germaine sich »in einem [352] solchen Zustand« befände, daß man sie keinesfalls
allein in einem Zimmer lassen könne. Es wäre höchst ungebührlich, wenn sie ein
Zimmer mit Dan teilte, und undenkbar, daß Großmutter mit einem Hausmädchen im
gleichen Zimmer schlief. Und ich sei schließlich erst elf.
Ich hatte das Zimmer so oft mit Owen geteilt; wie sehr sehnte ich
mich jetzt danach, mit ihm zu reden! Was würde er davon halten, daß er, wie
meine Großmutter glaubte, Lydias Tod vorhergesehen hatte? Und wäre er erleichtert, wenn er erführe, daß der Tod nicht vorhatte, ihn zu holen? Würde er es glauben? Ich wußte, er würde
zutiefst enttäuscht sein, wenn er Lydia nicht mehr zu sehen bekam. Und ich
wollte ihm auch von meiner Entdeckung erzählen, davon, daß ich – während ich
die Zuschauer beobachtete – auf den Gedanken gekommen war, ich könne mich auf
diese Weise an die Gesichter erinnern, die bei dem, wie Owen es nannte, SCHICKSALHAFTEN Baseballspiel zugeschaut hatten. Was
würde Owen von dieser plötzlichen Inspiration halten: daß es mein Vater gewesen sei, dem meine Mutter zugewinkt hatte, in dem
Augenblick, bevor sie von dem Ball getroffen wurde? Was würde Owen von diesen
»Visionen«, wie Rev. Lewis Merrill es genannt hatte, halten?
Doch Germaine lenkte mich ab. Sie wollte das Nachttischlämpchen
anlassen; sie wälzte sich im Bett hin und her; sie lag da und starrte an die
Decke. Als ich aufstand und ins Bad ging, bat sie mich, nicht so lange
wegzubleiben; sie wollte nicht alleine sein – keine Minute.
Wenn sie doch nur endlich einschlafen würde, dachte ich, dann könnte
ich Owen anrufen. Im Haus der Meanys gab es nur ein Telefon; es stand in der
Küche, direkt neben Owens Schlafzimmer. Ich konnte ihn jederzeit anrufen, denn
er wachte sofort auf, während seine Eltern wie Steine schliefen – wie
unbewegliche Granitklötze.
Dann fiel mir ein, daß es ja der Weihnachtsabend war. Meine [353] Mutter hatte einmal gesagt, es sei vielleicht gar
nicht so schlecht, daß wir über Weihnachten immer nach Sawyer Depot fuhren,
denn so konnte Owen seine Weihnachtsgeschenke nicht
mit meinen vergleichen.
Ich bekam immer ein halbes Dutzend Geschenke von allen Verwandten
und guten Bekannten – von meiner Großmutter, von meiner Tante und meinem Onkel,
von meinen Vettern und meiner Kusine; von Dan, und mehr als ein halbes Dutzend
von meiner Mutter. Dieses Jahr hatte ich bereits einen Blick unter den
Weihnachtsbaum im Wohnzimmer geworfen und war gerührt davon, wie Dan und meine
Großmutter sich bemüht hatten, wenigstens die Anzahl der Geschenke – für mich – beizubehalten, die normalerweise unter dem
Weihnachtsbaum der Eastmans auf mich warteten. Ich hatte sie bereits gezählt:
Es waren über vierzig Päckchen – und, weiß Gott, normalerweise war immer etwas
im Keller oder in der Garage versteckt, das zu groß war, als daß man es in
Geschenkpapier hätte einwickeln können.
Ich erfuhr nie, was Owen zu Weihnachten bekam, doch mir kam der
Gedanke, daß, wenn seine Eltern nicht am Weihnachtsabend aufblieben, bis er nach
Hause kam, dem Weihnachtsfest im Hause der Meanys keine besondere Bedeutung
beigemessen wurde. Früher war, wenn ich aus Sawyer Depot zurückkam, die Hälfte
meiner billigeren Geschenke bereits kaputt oder verlorengegangen, und die neuen
Sachen, die zu behalten sich wirklich lohnte, entdeckte Owen nur ganz langsam,
über Tage und Wochen.
»WO HAST DU DAS DENN HER?«
»Hab ich zu Weihnachten geschenkt gekriegt.«
»ACH SO …«
Jetzt, wo ich so darüber nachdachte, konnte ich mich nicht daran
erinnern, daß er mir auch nur ein einziges Mal etwas gezeigt hätte, das er »zu
Weihnachten« bekommen hatte. Ich wollte ihn anrufen, doch Germaine zwang mich,
im Bett zu bleiben. Je länger [354] ich dalag und
je mehr mir bewußt wurde, daß sie da – und noch wach – war, desto merkwürdiger
kam ich mir vor. Ich fing an, auf eine Art über Germaine nachzudenken, wie ich
über Hester nachdachte – und wie alt war Germaine wohl 1953? Ich glaube, nicht
viel älter als zwanzig. Und tatsächlich wünschte ich mir, daß sie sich zu mir
ins Bett legte, und stellte mir vor, wie ich in ihres schlüpfte; ich denke
nicht, daß sie mich davon abgehalten hätte – ich denke, sie hätte nichts gegen
eine unschuldige Umarmung einzuwenden gehabt, nicht einmal etwas gegen einen
nicht ganz so unschuldigen Jungen in ihren Armen, wenn sie damit nur den Tod
von sich fernhalten
Weitere Kostenlose Bücher