Owen Meany
Geheimgang verstecken können, doch was hatten die Diebe
mit Lydia gemacht? Vielleicht hatten sie sie gekidnappt oder ihren Rollstuhl
gestohlen und sie hilflos alleine zurückgelassen.
Die Bücher, die auf der Regaltür zum Geheimgang gestanden hatten,
waren völlig durcheinandergebracht – die Hälfte lag auf der Erde, als habe
Germaine, in höchster Panik, vergessen, an welcher Stelle sich Schloß und
Schlüssel befanden… auf welchem Regalbrett, hinter welchen Büchern? Sie hatte ein so großes Chaos
angerichtet, daß Schloß und Schlüssel nun für jeden, der den Raum betrat,
deutlich zu sehen waren – zumal die Bücher, die auf dem Boden herumlagen,
sofort die Aufmerksamkeit auf die Regaltür lenkten.
»Germaine!« flüsterte ich. »Sind sie weg?«
» Wer soll weg sein?« flüsterte Germaine
zurück.
»Die Einbrecher«, flüsterte ich.
»Welche Einbrecher?« wollte sie wissen.
Ich öffnete die Tür zum Geheimgang. Sie hockte dahinter, neben der
Marmelade und dem Gelee – in ihrem Haar waren genauso viele Spinnweben wie auf
den Saucen und den [348] Einmachgläsern und den
Dosen mit gebrauchten Tennisbällen, die noch aus der Zeit stammten, als meine
Mutter alte Tennisbälle für Sagamore aufgehoben hatte. Germaine hatte ihr
knöchellanges Frotteenachthemd an; doch sie war barfuß – was darauf hindeutete,
daß ihre Art, sich im Geheimgang zu verstecken, nicht viel anders war als ihre
Art, den Tisch abzuräumen.
»Lydia ist tot«, sagte Germaine. Sie trat nicht aus den Spinnweben
und den Schatten heraus, obwohl ich ihr die schwere Regaltür weit aufhielt.
»Sie ist umgebracht worden!« rief ich entsetzt aus.
»Niemand hat sie umgebracht«, entgegnete mir Germaine; eine Art
mystische Verklärung trat in ihre Augen und ließ sie ihre Feststellung geringfügig
korrigieren. »Der Tod ist einfach gekommen und hat sie geholt«, sagte Germaine
und erbebte dramatisch. Sie gehörte zu den Menschen, die den Tod
personifizieren; schließlich dachte sie auch, Owen Meanys Stimme sei nichts
anderes als das Sprachrohr des Teufels.
»Wie ist sie denn gestorben?« fragte ich sie.
»Im Bett, als ich ihr vorgelesen habe«, erzählte Germaine. »Sie
hatte mich gerade noch verbessert«, sagte Germaine. Lydia hatte Germaine
ständig verbessert, verständlicherweise; Lydia mußte Germaines Aussprache als
besonders beleidigend empfinden, da sie ihre eigene nach der meiner Großmutter
modellierte und Germaine auch dann für jeden Fehler verantwortlich machte, wenn
sie die Lesestimme meiner Großmutter imitierte. Großmutter und Lydia lasen sich
oft abwechselnd vor – weil sie, wie sie meinten, ihre Augen schonen mußten.
Also war Lydia gestorben, während sie ihre Augen schonte und Germaine darüber
informierte, daß sie dieses oder jenes Wort falsch ausgesprochen hatte.
Gelegentlich unterbrach Lydia Germaine beim Lesen und bat sie, ein bestimmtes
Wort zu wiederholen. Egal, ob es nun richtig oder falsch ausgesprochen war,
Lydia sagte immer: »Ich wette, Sie wissen nicht, was dieses Wort bedeutet,
oder?« Also war Lydia gestorben, als [349] sie
versuchte, Germaine zu »erziehen«, ein Unterfangen, das – wie meine Großmutter
fand – ein Faß ohne Boden war.
Germaine war so lange neben der Leiche sitzengeblieben, bis sie es
nicht mehr aushalten konnte.
»Seltsame Dinge sind mit ihr passiert«, erklärte Germaine, während
sie sich vorsichtig ins Wohnzimmer vorwagte. Erstaunt betrachtete sie die
verstreuten Bücher – als habe der Tod auch die holen wollen; oder vielleicht
hatte der Tod nach ihr selbst gesucht und dabei mit den Büchern um sich
geworfen.
»Was für Dinge?« wollte ich wissen.
»Keine schönen Dinge«, meinte sie mit einem Kopfschütteln.
Ich konnte mir vorstellen, wie das alte Haus knarrte und im
Winterwind stöhnte; die arme Germaine hatte wohl daraus geschlossen, daß der
Tod noch immer auf der Lauer lag. Möglicherweise hatte der Tod gedacht, Lydia
zu holen, würde nicht ganz einfach werden; als sich dann herausstellte, daß es
gar kein Problem war, mochte sich der Tod vielleicht überlegt haben, noch etwas
zu bleiben und eine zweite Seele zu holen, wo er schon mal dabei war.
Wir hielten einander an den Händen wie Geschwister, die zusammen
einer Gefahr die Stirn bieten, und betraten Lydias Zimmer. Bei ihrem Anblick
erschrak ich, denn Germaine hatte mir nicht erzählt, welche Anstrengungen sie
unternommen hatte, Lydias Mund zu schließen; sie hatte Lydias Unterkiefer mit
einer ihrer lila
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