Owen Meany
Stulpen an den Oberkiefer gebunden und die Stulpe oben über
Lydias Kopf verknotet. Bei einer genaueren Inspektion sah ich, daß Germaine
auch bei ihren Bemühungen, Lydias Augen für immer zu schließen, recht kreativ
geworden war; sie hatte zwei Münzen daraufgeheftet, verschieden große, und sie
mit Klebestreifen festgeklebt. Sie erklärte mir, daß sie keine gleichgroßen
Münzen gefunden habe, und daß das Augenlid, auf dem die kleinere Münze lag,
flatterte oder zu flattern schien; daher der Klebestreifen. Sie hatte beide
Münzen festgeklebt, erklärte sie – obwohl [350] die
größere von selbst liegengeblieben wäre – weil es ihrem Sinn für Symmetrie
widersprochen hätte, eine Münze festzukleben und die andere nicht. Jahre später
erinnerte ich mich daran, wie sie dieses Wort benutzte, und schloß daraus, daß
es Lydia und meiner Großmutter doch gelungen war, Germaine zu »erziehen«,
zumindest ein wenig; »Symmetrie«, da war ich sicher, hatte nicht zu ihrem Wortschatz
gehört, ehe sie zu uns in die Front Street gekommen war. Ich erinnerte mich
auch daran, daß dieses Wort – obwohl ich damals erst elf war – sehr wohl zu
meinem Wortschatz gehörte – hauptsächlich aufgrund von Lydias und Großmutters
Versuchen, mich zu »erziehen«. Meine Mutter hatte nie besonderen Wert auf Worte
gelegt, und Dan Needham ließ Kinder Kinder sein.
Als Dan Needham und meine Großmutter zurückkamen, waren Germaine und
ich sehr erleichtert; wir hatten die ganze Zeit neben Lydia gesessen und uns gegenseitig
in dem Glauben bestärkt, daß der Tod gekommen war, sich genommen hatte, was er
wollte, und wieder gegangen war – daß der Tod unser Haus in der Front Street in
Frieden verlassen hatte, zumindest für den Rest dieses Weihnachtsfestes. Doch
viel länger hätten wir es neben Lydia nicht mehr ausgehalten.
Wie immer übernahm Dan Needham die Führung; er hatte meine
Großmutter nach Hause gebracht – nach ihrem kurzen Auftritt bei der
Schauspielerfeier – und die Feier ging ohne ihn weiter. Er gab Großmutter einen
Grog und brachte sie zu Bett; natürlich hatte Owens Ausbruch im Theater sie
bestürzt – und nun tat sie ihre Überzeugung kund, daß Owen irgendwie Lydias Tod vorhergesehen und ihn mit seinem eigenen verwechselt
hatte. Diese Ansicht leuchtete Germaine sofort ein; während sie Lydia
vorgelesen hatte, erzählte sie, ganz kurz bevor Lydia gestorben war, hätten sie beide geglaubt, einen Schrei zu hören.
Großmutter war beleidigt, daß Germaine tatsächlich auch einmal mit
ihr einer Meinung zu sein schien, und wollte sich sogleich [351] von Germaines Aberglauben distanzieren; es sei
Unsinn, daß Lydia und Germaine Owens Schrei von der Stadthalle hätten hören
können, noch dazu an einem windigen Winterabend, wo alle Türen und Fenster
geschlossen waren. Germaine sei abergläubisch und höre wahrscheinlich jede
Nacht irgendwelche Schreie; und Lydia – das war nunmehr eindeutig bewiesen – habe an einer Senilität gelitten, die der meiner Großmutter deutlich voraus
war. Nichtsdestotrotz besitze Owen Meany, so die Meinung meiner Großmutter,
gewisse unerfreuliche »Kräfte«; daß er Lydias Tod »vorhergesehen« hatte, sei
kein Hirngespinst – zumindest keines, das Germaines Aberglauben gleichgesetzt
werden konnte.
»Owen hat überhaupt nichts vorhergesehen «, versuchte Dan Needham die aufgeregten
Frauen zur Besinnung zu bringen. »Er hatte mindestens vierzig Fieber! Die
einzige Kraft, die er besitzt, ist seine
Vorstellungskraft.«
Doch gegen dieses vernünftige Argument waren Großmutter und Germaine
Verbündete. Es gab – zumindest – eine mysteriöse Verbindung zwischen Lydias Tod
und dem, was Owen »gesehen« hatte; die Kräfte »dieses Kindes« gingen weit über
bloße Phantasie hinaus.
»Trinken Sie noch einen Grog, Harriet«, sagte Dan Needham zu meiner
Großmutter.
»Versuchen Sie ja nicht, mich zu bevormunden, Dan«, erwiderte meine
Großmutter. »Und schämen Sie sich«, fuhr sie fort, »daß Sie einen dummen Metzger eine so wunderbare Rolle derart verhunzen lassen!
Klägliche Besetzung«, schalt sie ihn.
»Sie haben ja recht«, gab Dan zu.
Lydia sollte in ihrem Zimmer liegenbleiben, bei fest verschlossener
Tür. Germaine würde in dem zweiten Bett in meinem Zimmer übernachten. Obwohl es
mir viel lieber gewesen wäre, mit Dan in seine Wohnung zurückzukehren, wurde
mir klargemacht, daß die Feier bis zum Morgengrauen dauern konnte – worauf ich
mich doch gerade gefreut
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