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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Mutter sang gern mit Sinatra mit.
»Dieser Frank«, sagte sie immer. »Der hat eine Stimme, die eigentlich für eine
Frau bestimmt ist – aber keine Frau hat je dieses Glück gehabt.« Ich erinnere
mich an einige ihrer Lieblingslieder; wenn ich sie höre, bin ich noch immer
versucht, sie mitzusingen – obwohl ich nicht die Stimme meiner
Mutter habe. Ich habe auch nicht die Stimme von Sinatra – und auch nicht seinen
grobschlächtigen Patriotismus. Ich glaube nicht, daß meine Mutter Sinatras
politische Einstellung gemocht hätte, doch ihr gefiel, was sie seine »frühe
Stimme« nannte, vor allem die Lieder, die er ganz am Anfang mit Tommy Dorsey
aufgenommen hatte. Da sie gerne mitsang, bevorzugte sie die Lieder, die er vor
dem Krieg gesungen hatte – als er noch ruhiger und kein so großer Star war, als
Tommy Dorsey ihn stimmlich in seine Band integrierte. Ihre Lieblingsaufnahmen waren die von 1940 – »I’ll Be Seeing You«, »Fools Rush In«, »I Haven’t Time to be a Millionaire«,
»It’s a Lovely Day Tomorrow«, »All This and Heaven Too«, »Where Do You Keep
Your Heart?«, »Trade Winds«, »The Call of the Canyon«; und am allerliebsten
mochte sie »Too Romantic«.
    Ich hatte ein eigenes Radio, und nachdem Mutter gestorben war,
schaltete ich es immer öfter ein; ich glaubte, es würde Großmutter zu
nahegehen, wenn ich die alten Lieder von Sinatra auf dem Grammophon abspielte.
Als Lydia noch lebte, schien sich Großmutter mit Lesen zufriedenzugeben;
entweder wechselten sie und Lydia sich gegenseitig beim Vorlesen ab, oder sie
zwangen Germaine dazu, ihnen laut vorzulesen – während die beiden ihre Augen
schonten und sich eifrig ihrer Aufgabe widmeten, Germaine zu »erziehen«. Doch
nachdem Lydia gestorben war, weigerte sich Germaine, meiner Großmutter vorzulesen;
Germaine war davon überzeugt, daß ihr Vorlesen Lydia entweder getötet oder
ihren Tod beschleunigt hatte, und Germaine wollte [363]  Großmutter
unter keinen Umständen auf ähnliche Weise ermorden. Eine Zeitlang las
Großmutter Germaine vor; doch dadurch ergab sich für sie keine Möglichkeit,
ihre Augen zu schonen, und oft hielt sie beim Lesen inne, um sich zu
vergewissern, ob Germaine auch wirklich zuhörte. Germaine konnte allerdings
nicht richtig zuhören – sie war zu sehr damit beschäftigt, am Leben zu bleiben,
während Großmutter ihr vorlas.
    Mein Zuhause war also durchaus anfällig für die Invasion durch das
Fernsehen. Ethel zum Beispiel würde Großmutter nie so unterhalten können wie
Lydia es getan hatte. Lydia war ein aufmerksames Publikum für Großmutters nahezu
ständige Kommentare und wußte dies auch zu schätzen, Ethel hingegen ging auf so
etwas nie ein – sie war arbeitsam, aber unbeteiligt, pflichtbewußt, aber
passiv. Dan Needham spürte, daß es an Ethels mangelnder Geistesschärfe lag, daß
meine Großmutter sich alt fühlte; schlug Dan jedoch vor, Großmutter solle Ethel
durch jemand Lebhafteren ersetzen, verteidigte meine Großmutter sie mit der
Loyalität einer Bulldogge. Die Wheelwrights waren Snobs, aber sie waren fair;
die Wheelwrights feuerten ihre Dienstboten nicht, weil sie pampig oder
langweilig waren. Und so blieb Ethel, und meine Großmutter wurde alt und sehnte
sich nach Unterhaltung; auch sie war anfällig für die Invasion durch das
Fernsehen.
    Germaine, die sich fürchtete, wenn Großmutter ihr vorlas – und die
sich andererseits zu sehr fürchtete, um selbst Großmutter vorzulesen – hatte zu
wenig zu tun; sie kündigte. Die Wheelwrights nehmen Kündigungen huldvoll an,
obwohl es mir leid tat, daß Germaine ging. Das Verlangen, das sie in mir
geweckt hatte – so widerlich es mir zu der Zeit auch erschien – war ein
Schlüssel zu meinem Vater; außerdem waren die wollüstigen Phantasien, die
Germaine in mir wachrief, zwar schlimm, aber doch unterhaltsamer als alles, was
ich im Radio zu hören bekam.
    Jetzt, wo Lydia nicht mehr da war und ich die Hälfte meiner Zeit bei
Dan verbrachte, brauchte Großmutter keine zwei [364]  Hausmädchen; es wäre unsinnig gewesen, jemand
neues für Germaine einzustellen – Ethel würde genügen. Und als Germaine weg
war, wurde auch ich anfällig für die Invasion durch
das Fernsehen.
    »DEINE GROSSMUTTER WILL SICH EINEN FERNSEHER KAUFEN?« fragte Owen Meany. Die Meanys hatten keinen Fernseher. Dan hatte auch keinen;
er hatte 1952 gegen Eisenhower gestimmt und sich vorgenommen, solange keinen
Fernseher zu kaufen, wie der Präsident war. Nicht einmal die

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