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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Augen sähen mehr als zwei. Was meine Vorstellung
anbelangte, daß meine Mutter in den letzten Sekunden ihres Lebens meinem Vater zugewinkt hatte, so glaubte er, meinen instinktiven
Eingebungen könne man trauen; er meinte, ich müsse AUF DER
RICHTIGEN FÄHRTE sein, denn bei der Vorstellung laufe es ihm KALT DEN RÜCKEN RUNTER – ein sicheres Zeichen. Und was
mein Verlangen anging, daß Germaine mir einen Steifen machte, so hätte Owen
nicht verständnisvoller reagieren können; wenn Barb Wiggin Wollust in ihm
erregen konnte, brauchte ich mich nicht zu schämen, daß Germaine solch
fürchterliche Gefühle in mir hervorrief. Owen hatte einen kleinen Vortrag zum
Thema Wollust ausgearbeitet, zu diesem Gefühl, das er später als » EINEN ERNSTEN HINWEIS DARAUF, DASS DIE VERDAMMUNG EWIG IST «
bezeichnete. Und was das unschöne Gefühl in Zusammenhang mit meinem Vater
anging – diese verhaßten Gefühlswallungen in mir, die für mich ein erstes
Zeichen dafür waren, was mir mein Vater alles mitgegeben hatte –, so stimmte
Owen mir völlig zu. Wollust, [357]  so sagte er
später zu mir, sei Gottes Weise, mir dabei zu helfen, meinen Vater zu
identifizieren; in Wollust war ich gezeugt worden, und in Wollust würde ich
meinen Vater entdecken.
    Heute finde ich es faszinierend, wie solch wilde Phantasien und
Philosophien – hervorgerufen durch eine unheilvolle Nacht voller Angst – Owen
und mir ganz normal vorkamen; aber was sind gute Freunde, wenn sie sich nicht
gegenseitig unterstützen?
    Natürlich war er einer Meinung mit mir – wie dumm Germaine doch war,
zu glauben, sie habe ihn schreien gehört, aus der großen Entfernung!
    » SO LAUT HAB ICH NUN AUCH WIEDER NICHT GESCHRIEN«, meinte
er indigniert.
    Großmutters Interpretation dessen, was er vorhergesehen hatte, war
der einzige Punkt, zu dem wir geteilter Meinung waren. Wenn er unbedingt an
etwas glauben mußte, warum konnte er dann nicht Großmutters Version glauben – daß es Lydias Tod war, den der Grabstein angezeigt hatte; daß Owen einfach nur
den falschen Namen »gesehen« hatte?
    »NEIN«, sagte er. »ES WAR MEIN NAME. NICHT DER VON SCROOGE – UND AUCH NICHT DER VON LYDIA.«
    »Aber gerade da liegt der Hund begraben«, sagte ich. »Du hast an
dich gedacht – du hattest sogar deinen eigenen Namen geschrieben, erst kurz davor.
Und du hattest hohes Fieber. Wenn dir der Grabstein wirklich was gesagt hat, dann, daß irgend jemand sterben würde. Und dieser Jemand war Lydia. Sie ist ja auch gestorben – oder?
Und du bist nicht gestorben – oder?«
    »ES WAR MEIN NAME .« Owen ließ sich nicht
beirren.
    »Sieh es doch mal so: Zur Hälfte hast du es verstanden«, erklärte
ich ihm. Ich versuchte, so zu klingen, als sei ich ein alter Hase für
»Visionen« und deren Interpretation. Ich versuchte, so zu klingen, als wisse
ich mehr darüber als Pastor Merrill.
    »ES WAR NICHT NUR MEIN NAME«, sagte
    Owen. »ICH MEINE, NICHT SO, WIE ICH IHN JE SCHREIBEN WÜRDE – AUCH NICHT SO, [358]  WIE ICH IHN IN DAS
BABYPUDER GESCHRIEBEN HABE. ES WAR MEIN RICHTIGER NAME – MIT
ALLEM DRUM UND DRAN.«
    Darauf wußte ich nichts zu sagen; er klang so stur. Sein »richtiger«
Name war Paul – der Vorname seines Vaters. Sein richtiger Name lautete Paul O.
Meany, Jr.; er war katholisch getauft worden. Natürlich brauchte er da den
Namen eines Heiligen; wenn es überhaupt einen
Heiligen Owen gibt, so habe ich davon jedenfalls noch nie etwas gehört. »Owen«
haben sie ihn wohl deshalb genannt, weil es schon einen »Paul« in der Familie
gab; woher dieser Name kam, hat er mir nie gesagt – ich habe es nie erfahren.
    »Auf dem Grabstein stand ›Paul O. Meany, Junior ‹ – stimmt das?« fragte ich ihn.
    »MIT ALLEM DRUM UND DRAN «, wiederholte
Owen. Dann legte er auf.
    Er war so verrückt, er machte mich verrückt! Ich blieb auf und trank
Orangensaft und aß ein paar Kekse; ich legte eine neue Scheibe Speck in die
Mausefalle und knipste das Licht aus. Wie meine Mutter konnte auch ich die
Dunkelheit nicht ausstehen; und im Dunkeln kam es mir – was er damit meinte: MIT ALLEM DRUM UND DRAN . Ich machte das Licht wieder
an; ich wählte noch einmal seine Nummer.
    »FROHE WEIHNACHTEN«, sagte er.
    »Stand ein Datum auf dem Grabstein?«
fragte ich ihn. Durch sein Zögern verriet er sich.
    »NEIN «, sagte er.
    »Welches Datum war es, Owen?« wollte ich wissen. Wieder zögerte er.
    »ES STAND KEIN DATUM DRAUF «, sagte
Owen. Ich war den Tränen nahe – nicht, weil ich auch nur

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