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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Eastmans hatten
einen Fernseher. Onkel Alfred wollte zwar einen, und Noah und Simon und Hester
bettelten geradezu darum, aber hoch oben im Norden war der Empfang noch
ziemlich schlecht, in Sawyer Depot bekam man meist nur Schnee auf den
Bildschirm, und Tante Martha weigerte sich, einen Turm für die erforderliche
Antenne bauen zu lassen – das wäre zu »unansehnlich«, wie sie sagte, obwohl
Onkel Alfred so dringend einen Fernseher haben wollte, daß er behauptete, er würde
sogar einen Antennenturm bauen, der tieffliegenden Flugzeugen in die Quere
kommen könnte, wenn er nur einen guten Empfang bekäme.
    »Ihr kriegt einen Fernseher ?« fragte
Hester mich am Telefon von Sawyer Depot aus. »Du hast vielleicht Schwein!« Ihr
Neid ging mir runter wie Öl.
    Owen und ich hatten keine Ahnung, was es im Fernsehen zu sehen geben
würde. Wir kannten nur die Samstags-Matinees im baufälligen Kino von Gravesend,
das unerklärlicherweise The Idaho hieß – ob nach dem
Bundesstaat ganz weit im Westen oder nach der Kartoffel gleichen Namens, wußten
wir nicht. Im Idaho wurden mit Vorliebe Tarzanfilme
gezeigt, und – in zunehmendem Maße – biblische Epen. Letztere konnten Owen und
ich nicht ausstehen: Seiner Meinung nach waren sie EIN FREVEL ,
meiner Meinung nach langweilig. Owen kritisierte auch die Tarzanfilme.
    »DIESE BLÖDE TURNEREI AN DEN LIANEN – UND DIE REISSEN
NATÜRLICH NIE. UND JEDESMAL, WENN ER SCHWIMMEN GEHT, LASSEN SIE DIE ALLIGATOREN
ODER KROKODILE REIN – WEISST [365]  DU, ICH GLAUB,
ES IST IMMER DERSELBE ALLIGATOR ODER DASSELBE KROKODIL; DAS ARME TIER IST
DARAUF GETRIMMT, MIT TARZAN ZU KÄMPFEN. WAHRSCHEINLICH LIEBT ES TARZAN! UND ES IST IMMER
DERSELBE ELEFANT, DER DURCHGEHT – UND IMMER DERSELBE LÖWE, IMMER DERSELBE
LEOPARD, UND IMMER DASSELBE BLÖDE WARZENSCHWEIN! UND WIE KANN JANE ES ÜBERHAUPT
MIT IHM AUSHALTEN? ER IST SO DÄMLICH; SO VIELE JAHRE IST ER SCHON MIT JANE
VERHEIRATET UND KANN IMMER NOCH KEIN ENGLISCH. NICHT MAL DER BLÖDE SCHIMPANSE
IST SO DÄMLICH WIE TARZAN!«
    Doch was ihn wirklich fuchste, waren die Pygmäen; da lief es ihm KALT DEN RÜCKEN RUNTER. Er überlegte, ob die Pygmäen
auch für andere Kinofilme angestellt wurden; er machte sich Sorgen, daß ihre
Blasrohre mit den Giftpfeilen bald bei JUGENDBANDEN beliebt werden könnten.
    »Bei wem?« fragte ich ihn. »Bei was für Jugendbanden denn?«
    »VIELLEICHT GIBT ES IN BOSTON WELCHE«, erwiderte
er.
    Wir hatten keine Ahnung, was wir uns von Großmutters Fernseher
erwarten sollten.
    Vielleicht gab es Pygmäen in den Spätfilmen, die 1954 gezeigt
wurden, aber Owen und ich durften einige Jahre lang keine Spätfilme ansehen;
das war – trotz all ihrer Liebe für Anstrengung und feste Ordnung – die einzige
Regel, die meine Großmutter für uns aufstellte. Vielleicht hat es 1954 ja auch
noch keine Spätfilme gegeben; aber darum geht es nicht. Denn meine Großmutter
war kein Zensor; sie war schlicht der Meinung, Owen und ich sollten zu einer
»christlichen« Zeit ins Bett gehen. Sie selbst sah den ganzen Tag fern, und
auch den ganzen Abend; beim Abendessen faßte sie dann für mich – oder Owen,
oder Dan, oder sogar Ethel – die ganzen Dummheiten, die sie gesehen hatte,
zusammen und gab schnell noch einen Überblick über die Absurditäten, die am
späten Abend auf sie warteten. Einerseits wurde sie zur Sklavin des Fernsehers;
andererseits tat sie ständig ihre Verachtung für fast [366]  alles,
was sie sah, kund, und die Energie, die sie für ihre Empörung aufwendete, mag
ihr Leben um Jahre verlängert haben. Sie verachtete das Fernsehen mit einer
solchen Leidenschaft und Geistesschärfe, daß es zu ihrer Lebensaufgabe wurde,
fernzusehen und das Gesehene zu kommentieren – manchmal richtete sie ihre
Kommentare sogar direkt an den Fernseher.
    Es gab kein Produkt zeitgenössischer Kultur, aus dem meine
Großmutter nicht schloß, wie konstant der Abstieg unserer Nation war, wie
erbarmungslos unser geistiger und moralischer Verfall, wie behende,
allumfassend und endgültig unser Niedergang. Ich habe sie nie wieder ein Buch
lesen sehen; doch sie redete oft von Büchern – als seien es Schreine und
Kathedralen des Lernens, die das Fernsehen geplündert und dann als leere Hüllen
zurückgelassen hatte.
    Es gab viel im Fernsehen, auf das Owen und ich nicht vorbereitet
waren; doch am wenigsten vorbereitet waren wir auf die aktive Teilnahme meiner
Großmutter an fast allem, was wir sahen. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn
wir ohne

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