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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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konnte. Ich fing an, Pläne zu schmieden – keineswegs so,
wie es Elfjährige tun, sondern ältere, lüsterne Jungen. Ich begann zu überlegen, wie weit ich, in Anbetracht der Tatsache, daß
Germaine völlig durcheinander war, wohl gehen konnte.
    Und ich sagte sogar: »Ich glaub dir, daß du ihn schreien gehört
hast.« Ich log sogar! Ich glaubte ihr kein bißchen!
    »Es war seine Stimme«, sagte sie sofort.
»Jetzt, wo ich drüber nachdenke, weiß ich es ganz genau.«
    Ich streckte die Hand aus, in den Gang zwischen unseren Betten; ihre
Hand ergriff meine. Ich dachte daran, wie Barb Wiggin Owen geküßt hatte; ich
wurde mit einer Erektion belohnt, die so stark war, daß sie meine Bettdecke ein
wenig anhob; doch als ich Germaines Hand besonders fest drückte, reagierte sie
nicht – sie hielt meine nur weiter fest.
    »Schlaf jetzt«, sagte sie. Als ihre Hand aus meiner rutschte, wußte
ich, daß sie eingeschlafen war; lange starrte ich sie an, wagte es aber nicht,
mich ihr zu nähern. Ich schämte mich meiner Gefühle. Obwohl ich durch meine
Großmutter und Lydia mit einem durchaus erwachsenen Wortschatz konfrontiert
wurde, so war ich doch noch nie auf das Wort Wollust getroffen; dieses Wort hatte ich nicht von ihnen gelernt – für dieses Gefühl
besaß ich kein Etikett. Was ich erlebte, schien einfach nur schlimm; es ließ Schuldgefühle in mir aufsteigen, daß ein Teil meiner
Person mit [355]  dem Rest von mir verfeindet war,
und in dem Augenblick dachte ich, ich hätte verstanden, woher mein Gefühl kam:
Es mußte von meinem Vater kommen. Was sich in mir regte, war das, was ich von
ihm hatte. Und zum ersten Mal zog ich in Erwägung, daß mein Vater ein
schlechter Mensch sein könnte, oder daß das, was er mir von sich mitgegeben
hatte, schlecht sein könnte.
    Und von da an dachte ich immer, wenn mich meine Gefühle beunruhigten – und ganz besonders, wenn ich mich so fühlte, wenn
ich Wollust in mir aufkommen spürte – daß sich mein
Vater in mir regte. Mein Wunsch, ihn kennenzulernen, wurde zu einem dringenden
Bedürfnis; ich wollte ihn nicht deshalb kennenlernen, weil ich ihn vermißte
oder nach jemandem suchen, den ich lieben konnte; ich hatte Dan und seine
Zuneigung; ich hatte meine Großmutter – und alles von meiner Mutter, an das ich
mich erinnerte und das ich in der Erinnerung sicherlich übertrieb. Es war nicht
Liebe, die mich drängte, meinen Vater kennenzulernen, sondern dunkelste Neugier – ich wollte in mich hineinsehen, zu welch schlechten Dingen ich fähig war.
    Wie sehnte ich mich danach, darüber mit
Owen zu sprechen!
    Als Germaine zu schnarchen anfing, stieg ich aus dem Bett und
schlich nach unten ans Telefon in der Küche.
    Die plötzliche Helligkeit in der Küche veranlaßte eine Maus, ihre
Untersuchung des Brotkastens schlagartig zu beenden; das Licht erschreckte auch
mich, denn es verwandelte die vielfach unterteilten Fensterscheiben in zahllose
fragmentarische Spiegelbilder von mir – da standen auf einmal viele Johnnys vor
mir, draußen vor dem Haus, und sahen zu mir herein. In einer der
Widerspiegelungen meines erschreckten Gesichts glaubte ich die Mr.   Morrison
eigene Furcht und Unbehaglichkeit zu erkennen; Dan hatte erzählt, daß Owens
Ohnmachtsanfall und sein anschließender Auftritt Mr.   Morrison schockiert hatten – der feige Briefträger war seinerseits ohnmächtig geworden. Chief Pike hatte
den leblosen Postmimen hinaus in die belebende Winterluft getragen, in [356]  der er wieder zu sich kam, und wie! – und mit dem
entschlossenen Polizeichef von Gravesend im Schnee rang, bis er sich
schließlich dem starken Arm des Gesetzes beugen mußte.
    Doch ich stand allein in der Küche; die kleinen, viereckigen
schwarzen Fensterscheiben spiegelten viele Versionen meines Gesichts wider, und
kein anderes Gesicht schaute zu mir herein, als ich Owen Meanys Nummer wählte.
Es klingelte länger, als ich erwartet hatte, und beinahe hätte ich den Hörer
wieder aufgelegt. Dann fiel mir wieder ein, daß Owen ja Fieber hatte, und ich
fürchtete, daß er heute tiefer als sonst schlief – und daß Mr.   und Mrs.   Meany
von meinem Anruf geweckt werden könnten.
    »FROHE WEIHNACHT «, meldete er sich
schließlich am Telefon.
    Ich erzählte ihm alles. Er ging sofort auf meinen Gedanken ein, daß
ich mich an das Publikum beim Baseballspiel »erinnern« könnte, indem ich das
Publikum bei Dans Theateraufführung beobachtete; er schlug mir vor, wir könnten
ja zusammen suchen – vier

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