Owen Meany
erinnere mich daran, wie Owen und meine
Großmutter jubelten!)
Und so wurde im Jahre 1954 meine Freude über den neuen Fernseher in
unserem Haus in der Front Street von der rätselhaften Liebe getrübt, die meine
Großmutter und Owen Meany [369] Liberace
entgegenbrachten. Ich fühlte mich von ihrer hirnlosen Verehrung solch eines
kitschigen Phänomens ausgeschlossen – meine Mutter hätte nie mit Liberace mitgesungen! – und wandte mich, wie immer, mit meiner Kritik an
Dan.
Dan Needham hatte eine schöpferische, oft positive Art, mit
Mißgeschicken umzugehen; viele Lehrer, selbst in den besseren Schulen, sind
Versager, die sich verstecken – faule Menschen, die ihre geringe Autorität nur
über Heranwachsende ausüben können; doch zu denen hatte Dan nie gehört. Ob er
gedacht hatte, er könne bis zur Pensionierung an der Gravesend Academy
unterrichten, als er sich in meine Mutter verliebte und sie heiratete, werde
ich wohl nie erfahren; aber ihr Verlust und seine Reaktion auf diese
Ungerechtigkeit brachten ihn dazu, sich der Ausbildung und Erziehung des
»ganzen jungen Menschen« zu widmen, und zwar auf eine Art, die selbst die
hochtrabenden Ziele der Lehrpläne übertrafen – in denen die Entwicklung des
»ganzen jungen Menschen« während der vier Schuljahre an der Academy angestrebt
wurde. Dan wurde der beste Lehrer an der Schule: Er war nicht nur einfallsreich
und geschickt, sondern er glaubte, daß es ein Problem sei, jung zu sein, daß es
schwieriger war, ein Teenager zu sein als ein Erwachsener – eine Meinung, die
nicht von vielen Erwachsenen geteilt wird, und nur von ganz wenigen Lehrern an
einer Privatschule (die ihre Zöglinge eher als die privilegierten Gören der
reichen Oberschicht ansehen – als verwöhnte Blagen, denen man Disziplin
beibringen muß). Dan Needham, der in Gravesend natürlich auch auf viele
verwöhnte Blagen stieß, denen man Disziplin beibringen mußte, hatte einfach
mehr Mitgefühl für Menschen unter zwanzig als für Menschen seines eigenen
Alters oder ältere – obwohl er den Alten wiederum mehr Mitgefühl
entgegenbrachte, da sie seiner Meinung nach eine zweite Jugend durchlitten und
ihnen (wie den Schülern an der Gravesend Academy) besondere Aufmerksamkeit
entgegengebracht werden mußte.
[370] »Deine Großmutter wird alt«,
sagte Dan zu mir. »Sie hat in ihrem Leben einige Verluste hinnehmen müssen – ihren Mann, deine Mutter. Und Lydia – obwohl es weder deine Großmutter noch
Lydia selbst wußten – war wahrscheinlich die engste Freundin, die deine Großmutter
hatte. Ethel ist so unterhaltsam wie ein Feuerhydrant. Wenn deine Großmutter
Liberace liebt, darfst du ihr deshalb keinen Vorwurf machen. Sei doch nicht so
ein Snob! Wenn jemand sie glücklich macht, beschwer dich nicht darüber«, sagte
Dan.
Doch wenn man es auch vielleicht noch tolerieren konnte, daß jemand
in Großmutters Alter Liberace anbetete, so war es auf keinen Fall akzeptabel,
daß Owen Meany diesen affektierten Klavierhelden ebenfalls verehrte!
»Owen geht mir auf die Nerven, weil er immer so tut, als wäre er
wunder wie schlau«, sagte ich zu Dan. »Wenn er wirklich so schlau ist, wie kann
er Liberace mögen – in seinem Alter?«
»Owen ist schlau«, erwiderte Dan. »Er ist
sogar schlauer, als er meint. Aber irgendwie ist er nicht von dieser Welt«,
fügte Dan hinzu. »Der Himmel weiß – bei dieser Familie –, mit was für einem
Aberglauben er großgeworden ist! Sein Vater ist ein ungehobelter Klotz, und
kein Mensch weiß, was für Probleme seine Mutter im Kopf mit sich rumschleppt – sie ist so komisch, daß wir nicht mal erahnen können, wie geisteskrank sie ist!
Vielleicht mag Owen Liberace, weil Liberace in Gravesend nicht existieren
könnte. Warum glaubt er wohl, daß es in Sawyer Depot so toll ist?« fragte Dan.
»Weil er noch nie da war.«
Ich dachte, Dan habe recht; aber Dans Theorien über Owen waren mir
immer ein bißchen zu komplett. Als ich Dan sagte, daß Owen immer noch davon
überzeugt war, er habe sein genaues Todesdatum gesehen – und daß er mir nicht
sagen wollte, welcher Tag es gewesen war – stellte Dan auch dieses Problem in
eine Reihe mit dem Aberglauben, dem Owen durch seine Eltern ausgesetzt war; ich
konnte mich nicht des Eindrucks erwehren, daß Dan [371] Owen
in bezug auf seine Kreativität und seine Fähigkeit, für sich selbst zu
entscheiden, doch unterschätzte.
Und wenn Dan auch einer der begabten und unermüdlich selbstlosen
Lehrer an der
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