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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ein Wort von seiner
blöden »Vision« glaubte, sondern weil er mich das erste Mal belogen hatte.
    »Frohe Weihnachten«, sagte ich und legte auf.
    Als ich das Licht zum zweiten Mal ausknipste, war das Dunkel um mich
noch dunkler.
    [359]  Welches Datum war es? Wieviel
Zeit hatte er sich selbst gegeben?
    Die einzige Frage, die ich der Dunkelheit stellen wollte, war die
Frage, auf die auch Scrooge eine Antwort haben wollte: »›Sind dies die Schatten
von Dingen, die eines Tages sein werden, oder sind es
nur die Schatten von Dingen, die sein könnten ?‹« Doch
der Geist der Zukunft antwortete nicht.

[360]  6
    Die Stimme
    Von allen Dingen, die meine Großmutter nicht leiden
konnte, brachte mangelnde Anstrengung sie am meisten in Rage; dieser Haß kam
Dan recht seltsam vor, da Harriet Wheelwright in ihrem Leben nicht einen Tag
gearbeitet hatte – und dies auch von meiner Mutter nie erwartet hatte; auch mir
hat sie niemals irgendeine lästige Pflicht aufgetragen. Dennoch bedurfte es
ihrer Meinung nach permanenter Anstrengung, die Ereignisse zu verfolgen – sowohl die in unserer kleinen Welt als auch die außerhalb von Gravesend –, und
es bedurfte großer Anstrengung und Intelligenz, nahezu ständig Kommentare über
die gemachten Beobachtungen abzugeben; und bei diesen Anstrengungen erwies sich
Großmutter als rigoros und konsequent. Ihr Glaube, daß Anstrengung ein Wert an
sich sei, hielt sie davon ab, einen Fernseher zu kaufen.
    Sie las leidenschaftlich gern und hielt Lesen für eine der
vornehmsten Anstrengungen; Schreiben hingegen betrachtete sie als reine
Zeitverschwendung – eine kindische Nachgiebigkeit gegen sich selbst, noch
schmuddeliger als Malen mit Fingerfarben –, aber Lesen war für sie eine
bewundernswerte, selbstlose Tätigkeit, die einen mit Information und Inspiration
versorgte. Es muß sie betrübt haben, daß einige arme Narren ihr Leben mit
Schreiben verschwenden mußten, nur damit wir genug Lesestoff hatten. Außerdem
machte Lesen einen sicher und vertraut im Umgang mit der Sprache, dem
notwendigen Werkzeug, um die ständigen Kommentare über das Beobachtete zu
formulieren. Großmutter hatte ihre Zweifel am Radio, obgleich sie zugeben
mußte, daß die moderne Welt sich mit einem derartigen Tempo vorwärtsbewegte,
daß das geschriebene Wort nicht mehr Schritt halten [361]  konnte;
Zuhören erforderte zumindest eine gewisse Anstrengung, und die Sprache, die man
im Radio hörte, war nicht viel schlechter als die, über die man immer häufiger
in Zeitungen und Zeitschriften stolperte.
    Doch beim Fernsehen zog sie die Grenze. Zuschauen kostete keinerlei Anstrengung – es war weitaus nützlicher für Seele und Geist,
zu lesen oder zuzuhören – und was es ihrer Meinung nach im Fernsehen zu sehen
gab, empörte sie; natürlich hatte sie nur darüber gelesen. Sowohl im
Veteranenheim als auch in der Seniorenresidenz von Gravesend – sie saß bei
beiden im Verwaltungsausschuß – hatte sie heftig ihre Meinung kundgetan, den
alten Menschen Fernsehgeräte zur Verfügung zu stellen bedeute nur, ihren Tod zu
beschleunigen. Sie ließ sich von den Gegenargumenten beider Altersheime nicht
erweichen: daß ihre Insassen oftmals zu schwach oder zu zerstreut zum Lesen
waren und daß sie vor dem Radio einschliefen. Meine Großmutter besuchte beide
Heime und fand von dem, was sie sah, ihre Meinung nur bestätigt; was Harriet Wheelwright
sah, bestätigte stets ihre Meinung: Sie sah, wie sich der Prozeß des Sterbens
beschleunigte. Sie sah gebrechliche alte Menschen mit weit aufgerissenem Mund
dasitzen; obwohl sie bestenfalls noch über einen Teil ihrer früheren
Aufnahmefähigkeit verfügten, hing ihr Blick voller teilnahmsloser
Aufmerksamkeit an Bildern, von denen Großmutter meinte, sie seien »von so
konzentrierter Banalität, daß man sie nicht im Gedächtnis behalten kann«. Es
war das erste Mal, daß sie wirklich eingeschaltete Fernseher gesehen hatte, und
sofort war sie hin und weg. Sie meinte, das Fernsehen sauge das bißchen Leben,
das noch in den alten Leuten steckte, »geradewegs aus ihnen heraus«; dennoch
sehnte sie sich von diesem Zeitpunkt an nach einem eigenen Fernseher!
    Der Tod meiner Mutter, dem binnen eines halben Jahres der Tod Lydias
folgte, hatte viel mit der Entscheidung meiner Großmutter zum Kauf eines
Fernsehers zu tun. Meine Mutter hatte das [362]  alte
Grammophon sehr gern gemocht; abends lauschten wir Sinatra, der unter Begleitung
des Tommy Dorsey Orchestra sang – meine

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