Owen Meany
Großmutter fernsahen, waren wir enttäuscht; ohne Großmutters ständige
vernichtende Kommentare gab es nur wenige Programme, die unser Interesse
wachhalten konnten. Saßen wir allein vor dem Fernseher, sagte Owen immer: » ICH KANN DIREKT HÖREN, WAS DEINE GROSSMUTTER DAZU GESAGT HÄTTE.«
Natürlich hat der Untergang der Kultur für jeden, selbst für die
ernsthaftesten Charaktere, einen Unterhaltungswert; selbst meine Großmutter
erfreute sich an einer ganz bestimmten Fernsehshow. Zu meiner Überraschung
waren Großmutter und Owen begeisterte Zuschauer der gleichen Show – für meine Großmutter war es die einzige Show,
die sie kritiklos liebte; für Owen war es die beste Show von den wenigen, die
ihn anfangs begeistert hatten.
Die merkwürdige Gestalt, die die selten unkritischen Herzen meiner
Großmutter und Owen Meanys eroberte, war ein [367] schamloser
Charmeur, ein musikalischer Schöntuer, der Chopin und Mozart und Debussy
verhackstückte, sie in zwei- oder dreiminütigen, übertrieben schnörkelhaften
Darbietungen mit diamantberingten Fingern auf einem Flügel vortrug. Manchmal
spielte er auf einem gläsernen Klavier, und dann erwähnte er jedesmal stolz,
wieviel Hunderttausende an Dollars ihn dieses Klavier gekostet hatte; einer der
Diamantringe hatte die Form eines Klaviers, und niemals spielte er auf einem
Klavier, auf dem nicht ein geschwungener Kerzenhalter stand. Als das Fernsehen
noch in den Kinderschuhen steckte, war er ein Idol – hauptsächlich für Frauen,
die älter waren als meine Großmutter, und nur halb so gebildet; dennoch liebten
meine Großmutter und Owen Meany ihn abgöttisch. Einmal, als er erst vierzehn
war, hatte er als Solist mit dem Chicago Symphony Orchestra gespielt, doch
jetzt – als dauergewellter Mittdreißiger – war er ein Mann, der sich mehr dem
Optischen als dem Akkustischen widmete. Er trug bodenlange Pelze und mit
Pailletten besetzte Anzüge, er packte Chinchillas im Wert von 60 000 $ auf einen
Mantel; er hatte ein Jackett mit einer 24-Karat-Goldborte; er trug einen
Smoking mit Diamantknöpfen, an denen man seinen Namen, Liberace, ablesen
konnte.
»LIBERACE!« schrie Owen jedesmal, wenn
er diesen Mann sah; seine Fernsehshow kam zehnmal die Woche. Er war ein
lächerlicher Paradiesvogel mit einer honigsüßen, femininen Stimme und so tiefen
Grübchen, daß man meinen konnte, sie seien das Werk einer Spitzhacke.
»Ich geh mir mal eben was Aufregendes anziehen«, säuselte er immer
wieder; meine Großmutter und Owen jubelten Beifall, und Liberace kam zurück und
trat wieder an sein Klavier, nachdem er die glitzernden Spangen gegen Federn
vertauscht hatte.
Liberace war ein androgyner Pionier – der die Gesellschaft auf
Exzentriker wie Elton John oder Boy George vorbereitete – doch ich konnte nie
verstehen, wieso Owen und Großmutter an ihm Gefallen fanden. Es lag bestimmt
nicht an seiner Musik, denn er [368] spielte
Mozart auf so modisch aufgepeppte Weise, daß man glauben mochte, er spiele
»Mackie Messer«; ab und zu spielte er auch »Mackie Messer«.
»Er liebt seine Mutter«, sagte meine Großmutter zu seiner
Verteidigung – und das schien auch wirklich zu stimmen; er hielt nicht nur im
Fernsehen Lobreden auf sie, sondern soll sogar tatsächlich mit der alten Dame
zusammen gewohnt haben, bis sie starb – 1980!
»ER HAT SEINEM BRUDER EINEN JOB GEGEBEN«, sagte
Owen. »UND ICH GLAUB NICHT, DASS GEORGE BESONDERS VIEL
TALENT HAT.« Und George, der schweigsame Bruder, spielte in der
Tat die Rolle eines musikalischen Stichwortgebers, bis er aus der Show ausstieg
und Kurator des Liberace-Museums in Las Vegas wurde, wo er auch starb, und zwar
1983. Doch wie kam Owen auf den Gedanken, Liberace könne BESONDERS VIEL
TALENT haben? Für mich lag sein Haupttalent darin, daß er sich so
unbefangen amüsieren konnte – und er konnte auch über sich selbst lachen. Doch
meine Großmutter und Owen jubelten ihm so hysterisch zu wie die alten Damen mit
gefärbtem Haar unter seinen Studiogästen – besonders, wenn dieser berühmte
Spinner ins Publikum sprang und mit ihnen tanzte !
»Er mag die alten Leute tatsächlich!« sagte meine Großmutter
verwundert.
»ER WÜRDE NIEMALS JEMANDEM ETWAS ZULEIDE TUN«, sagte
Owen bewundernd.
Zu der Zeit hielt ich ihn für schwul, doch ein Journalist aus
London, der dies öffentlich behauptete, verlor daraufhin einen
Verleumdungsprozeß gegen ihn. (Das war 1959, im Zeugenstand sagte Liberace aus,
er sei gegen Homosexualität. Ich
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