Owen Meany
sehr dankbar,
daß er dieses Opfer brachte – doch tief im Innersten störte es mich, daß er
eine so große Macht über mich besaß.
»DENK EINFACH NICHT MEHR DARÜBER NACH«, riet
er mir. [376] »WIR SIND DOCH
FREUNDE, ODER? UND WOZU SIND FREUNDE DA? ICH WERDE DICH NIE IM STICH LASSEN.«
Toronto, 5. Februar 1987. Gestern ist Liberace gestorben; er war
siebenundsechzig. Seine Fans hatten vor seiner Villa in Palm Springs, einem
ehemaligen Kloster, mit Kerzen in der Hand Wache gehalten. Wäre es Owen, wenn
er das erfahren hätte, nicht kalt den Rücken
runtergelaufen? Liberace hatte seine frühere ablehnende Haltung gegenüber
Homosexuellen revidiert. »Wenn einer schwul ist, dann ist es sein gutes Recht,
das auch auszuleben«, meinte er. Dennoch bestritt er im Rahmen eines
Gerichtsverfahrens im Jahre 1982, daß er für die sexuellen Dienste eines
männlichen Angestellten – eines früheren Dieners und Chauffeurs, der in seinem
Haus gewohnt hatte – bezahlt habe. Es kam zu einem außergerichtlichen
Vergleich. Und Liberaces Manager bestritt, daß der Star sich mit AIDS infiziert habe; sein in letzter Zeit zu
beobachtender Gewichtsverlust sei Folge einer Wassermelonendiät.
Was hätten meine Großmutter und Owen Meany wohl dazu gesagt?
»LIBERACE!« hätte Owen ausgerufen. »WER HÄTTE DAS FÜR MÖGLICH
GEHALTEN? LIBERACE STIRBT AN WASSERMELONEN!«
Erst an Thanksgiving 1954 kamen die Kinder der Eastmans nach
Gravesend und sahen Großmutters Fernsehgerät in unserem Haus in der Front
Street. Noah war seit diesem Herbst an der Academy und hatte ab und zu am
Wochenende mit Owen und mir ferngesehen, aber kein Urteil über die Kultur, die
uns umgab, konnte je vollständig sein ohne Simons sofortige Begeisterung über
alle nur erdenklichen Formen von Unterhaltung und ohne Hesters gleichfalls
automatische Ablehnung.
»Toll!« sagte Simon; auch er fand Liberace »toll«.
»Ist doch Scheiße das alles«, sagte Hester. »Solange nicht alles in
Farbe ist, und solange die Farbe nicht perfekt ist, lohnt sich [377] Fernsehen nicht.« Doch Hester war beeindruckt von
der Energie, die meine Großmutter für ihre ständige Kritik an allem, was sie
sah, aufbrachte; diesen Stil versuchte Hester nachzuahmen – denn es lohnte sich
sogar, »Scheiße« anzusehen, wenn einem das die Gelegenheit gab, herauszufinden,
welche Art von Scheiße es war.
Alle waren sich einig, daß die alten Kinofilme viel interessanter
waren als die aktuellen Fernsehprogramme; doch nach Hesters Meinung waren die
Kinofilme, die gezeigt wurden, »zu alt«. Großmutter gefiel das – »je älter,
desto besser!« – doch die meisten Leinwandstars waren nicht nach ihrem
Geschmack. Nachdem sie Unter Piratenflagge gesehen
hatte, verkündete sie, Errol Flynn habe »nur Muskeln und kein Hirn«; Hester
fand, Olivia de Havilland habe »Kuhaugen«. Owen warf ein, die Piratenfilme
seien alle gleich.
»DIESE BLÖDEN FECHTKÄMPFE!« sagte er. »UND GUCK DIR MAL DIE KLEIDER AN! WENN MAN FECHTEN MUSS, IST ES
DOCH BLÖD, SO LOSE, WEITE HEMDEN ZU TRAGEN – DIE WERDEN NATÜRLICH ALLE IN
STÜCKE GESCHNITTEN!«
Großmutter monierte, die Auswahl dieser Filme passe nicht einmal
»zur Jahreszeit«. Wozu zeigten sie Es geschieht jeden
Frühling im November? Kein Mensch denkt an Thanksgiving an Baseball, und Es geschieht jeden Frühling ist ein dermaßen blöder
Film über Baseball, daß ich sicher war, ich könnte ihn mir jeden Abend ansehen
und würde trotzdem nicht an den Tod meiner Mutter erinnert werden. Ray Milland
ist ein Collegelehrer, der zum phänomenalen Baseballspieler wird, nachdem er
eine holzabstoßende Formel entdeckt hat; wie kann einen so etwas an ein reales Ereignis erinnern?
»Ganz im Ernst, wer denkt sich so etwas aus?« fragte Großmutter.
»Matschhirne«, sagte Hester, die ständig ihren Wortschatz
erweiterte.
Ob die Gravesend Academy schon mit dem Prozeß begonnen [378] hatte, Noah vor sich selbst zu retten, war schwer
zu sagen; es war vielmehr Simon, der ruhiger wirkte, vielleicht, weil er Noah
im Herbst vermißt hatte und von der sofortigen Erneuerung ihrer athletischen
Rivalitäten überwältigt war. Noah hatte beträchtliche Schwierigkeiten an der
Academy, und Dan Needham führte mehrere Gespräche unter vier Augen mit Onkel
Alfred und Tante Martha. Die Eastmans beschlossen, Noah sei geistig erschöpft;
die Familie würde diese Weihnachtsferien an einem erholsamen Strand in der Karibik
verbringen.
» AM BERUHIGENDEN SCHAUPLATZ VON UNTER
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