Owen Meany
wurde Owen und mir nie
deutlich erklärt, inwieweit sie sich »eingelassen«
hatte; wir mußten uns mit [390] den Auszügen der
Geschichte begnügen, die meine Tante Martha Dan weitererzählt hatte – deutlich
mehr, als sie meine Großmutter wissen ließ, die der Meinung war, ein Matrose
hätte bei der armen Hester einen »Annäherungsversuch« gemacht, und zwar so
grob, daß Hester nun zu Hause bleiben wolle. In
Wirklichkeit drohte Hester, sich nach Tortola abzusetzen. Außerdem redete sie
nicht mehr mit Noah und Simon, die Onkel Alfred und Tante Martha die Briefe des
farbigen Bootsmannes gezeigt und überdies Hester fürchterlich enttäuscht
hatten, weil sie sie nicht mit einem einzigen ihrer Freunde von der Gravesend
Academy bekannt machten.
Dan Needham beschrieb die Situation in Form einer Schlagzeile:
»Rolliger Backfisch in Sawyer Depot!« Owen und mir riet er, uns am besten nicht
mit Hester einzulassen. Wie recht er hatte! Doch wie gern hätten wir uns auf
die erregende, echte Anrüchigkeit eingelassen, in der Hester, wie wir
vermuteten, bis zum Hals steckte. Wir waren in einer Phase, in der wir, durch
Fernsehen und Kinofilme, nur indirekt lebten. Selbst nur im entferntesten
schmutziger Blödsinn erregte uns, wenn wir dadurch Kontakt zur Liebe erhielten.
Am nächsten kamen Owen und ich der Liebe noch auf einem Platz in der
ersten Reihe des Idaho. In jenem Dezember 1957 waren
wir beide fünfzehn; wir erzählten einander, wir hätten uns in Audrey Hepburn
verliebt, die schüchterne Angestellte einer Buchhandlung in Ein süßer Fratz; doch in Wirklichkeit wollten wir Hester. Was uns blieb,
war der Gedanke, wie wenig wir, was die Liebe anbelangte, doch wert zu sein
schienen; wir fühlten uns noch dümmer als Fred Astaire, der mit seinem eigenen
Regenmantel tanzte. Und wie sehr waren wir besorgt, daß die intellektuelle Welt
der Gravesend Academy uns noch geringer achten würde als wir uns selbst.
Toronto, 12. April 1987. Ein verregneter Palmsonntag. Es ist
kein warmer Frühlingsregen – »wie es sich für diese Jahreszeit gehört«, [391] sagte meine Großmutter immer. Eher ein kalter,
ungemütlicher Regen, ein Tag, der zum Leiden unseres Herrn Jesus Christus paßt.
In der Grace Church standen die Ministranten und alle anderen Kinder
zusammengedrängt in der Vorhalle; mit den Palmzweigen, die sie in Händen
hielten, glichen sie Touristen, die an einem für die Jahreszeit untypisch
kalten Tag an ihrem Urlaubsort in den Tropen gelandet sind. Als Eingangslied
wählte der Organist etwas von Brahms: »O Welt, ich muß dich lassen.«
Owen haßte den Palmsonntag: den Verrat des Judas, die Feigheit des
Petrus, die Schwäche des Pilatus.
»ES IST SCHON SCHLIMM GENUG, DASS SIE IHN GEKREUZIGT
HABEN«, meinte er, »ABER SIE HABEN SICH SOGAR NOCH
ÜBER IHN LUSTIG GEMACHT!«
Canon Mackie las schwerfällig aus dem Matthäusevangelium: wie sie
Jesus verspotteten, wie sie ihn anspuckten, wie er ausrief: »Mein Gott, mein
Gott, warum hast du mich verlassen?«
Die Karwoche ist für mich eine äußerst anstrengende Angelegenheit;
wie oft ich auch die Kreuzigung unseres Herrn bereits erlebt habe, ist meine
Sorge um seine Auferstehung doch nach wie vor unvermindert – mich packt das
Grauen bei der Vorstellung, daß sie dieses Jahr nicht stattfinden könnte; daß
sie, in jenem Jahr, nicht stattgefunden hat. Bei der Geburt des Erlösers kann jedermann
sentimental werden; jeder Idiot kann sich an Weihnachten als Christ fühlen.
Aber Ostern ist das Hauptereignis; wer nicht an die Auferstehung glaubt, ist
kein gläubiger Christ.
»WER NICHT AN OSTERN GLAUBT«, meinte
Owen Meany, »SOLLTE SICH NICHTS VORMACHEN – DER SOLLTE SICH
NICHT ALS CHRIST BEZEICHNEN.«
Den Auszug der Gemeinde begleitete der Organist am Palmsonntag mit
den üblichen Hallelujas. In kaltem Nieselregen überquerte ich die Russell Hill
Road und ging zum Lieferanteneingang der Bishop Strachan School; ich
durchquerte die Küche, wo die Frauen vom Personal und die
Internatsschülerinnen, die [392] Küchendienst
hatten, mich alle grüßten. Die Schulleiterin, Rev. Mrs. Katherine Keeling, saß
wie immer am Kopfende des Tisches, an dem die Lehrer das Mittagessen einnahmen.
Etwa vierzig Schülerinnen – die armen Mädchen, die hier in Toronto keine
Freunde hatten, von denen sie übers Wochenende eingeladen wurden, und die
Mädchen, die gerne in der Schule blieben – saßen an den anderen Tischen. Es ist
immer wieder eine Überraschung, die Mädchen in
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