Owen Meany
meinem Vater war.
Was die Wollust anging, so hatte ich gehofft, Hester häufiger zu
sehen – jetzt, wo Noah und Simon an der Gravesend
Academy waren. Doch tatsächlich sah ich sie seltener. Noahs schulische Probleme
hatten dazu geführt, daß er ein Jahr wiederholen mußte; Simons erstes Jahr war
glatter verlaufen, wahrscheinlich deshalb, weil es Simon Auftrieb gab, daß Noah
in seine Klasse zurückversetzt wurde. An Weihnachten
1957 hatten die beiden Jungen die ersten Jahre an der Academy bereits hinter
sich – und waren so eifrig mit dem beschäftigt, was Owen und ich für die
reizvolleren [388] Aktivitäten im Leben einer
Privatschule hielten, daß ich sie kaum häufiger sah als Hester. Selten war es
Noah und Simon so langweilig an der Academy, daß sie uns in der Front Street
besuchen kamen – nicht mal an den Wochenenden, die sie immer häufiger mit ihren
zweifellos interessanteren Klassenkameraden verbrachten. Owen und ich nahmen
an, daß wir – in den Augen von Noah und Simon – zu unreif für sie waren.
Ganz sicher waren wir zu unreif für Hester, die es – angestachelt
davon, daß Noah eine Stufe wiederholen mußte – fertiggebracht hatte, das
Klassenziel zu erreichen. Sie hatte kaum schulische Schwierigkeiten an der
Sawyer Depot High-School, wo sie – wie Owen und ich uns vorstellten – Lehrer
und Schüler gleichermaßen terrorisierte. Sie hatte sich wahrscheinlich sogar
ins Zeug gelegt, um eine Klasse zu überspringen, da sie – wie immer – besser
sein wollte als ihre Brüder. Dennoch sah es so aus, als würden alle drei
Eastman-Kinder im Jahr 1959 ihren Schulabschluß in der Tasche haben – wenn Owen
und ich gerade mal unser erstes Jahr an der Academy hinter uns hatten; wir würden erst 1962 fertig werden. Das war für mich eine
Erniedrigung; ich hatte gehofft, daß ich eines Tages mit meinen aufregenden
Vettern gleichziehen könnte, doch im Moment kam es mir vor, als seien sie mir
noch weiter voraus als je zuvor. Insbesondere Hester schien nunmehr völlig
außer Reichweite.
»SCHLIESSLICH IST SIE DEINE KUSINE – SIE SOLLTE AUCH AUSSER DEINER REICHWEITE
SEIN«, meinte Owen. »AUSSERDEM IST SIE GEFÄHRLICH – DU
KANNST FROH SEIN, DASS SIE AUSSER DEINER REICHWEITE IST. ANDERERSEITS«, fuhr
er fort, »WENN DU WIRKLICH VERRÜCKT NACH IHR BIST, DANN WIRD
ES VIELLEICHT SOGAR KLAPPEN – HESTER WÜRDE ALLES TUN, UM IHRE ELTERN ZU
SCHOCKIEREN, SIE WÜRDE DICH SOGAR HEIRATEN!«
»Mich heiraten !« rief ich aus; bei dem
Gedanken, Hester zu heiraten, lief es mir kalt den
Rücken runter.
[389] »DA WÜRDEN IHRE
ELTERN DURCHDREHEN«, sagte Owen, »MEINST DU NICHT
AUCH?«
Da würden sie allerdings durchdrehen; und Owen hatte recht: Hester
war geradezu besessen von dem Gedanken, ihre Eltern – und ihre Brüder – zu
schockieren. Sie zum Wahnsinn zu treiben, war die Strafe dafür, daß die ganze
Familie Hester wie »ein Mädchen« behandelt hatte; laut Hester war Sawyer Depot
ein »Paradies für Jungen« – meine Tante Martha übte »Verrat an den Frauen«; sie
ordnete sich Onkel Alfreds Entscheidung unter, die Jungen an eine Privatschule zu schicken, damit die Jungen ihren »Horizont erweitern« sollten. Hester erweiterte ihren Horizont nun
dahingehend, daß sie ihren Eltern deutlich aufzeigte, welche Verfehlungen sie
begingen. Was Owens Meinung betraf, daß Hester sogar so weit gehen würde, ihren
eigenen Vetter zu heiraten, wenn sie damit Tante Martha und Onkel Alfred eine
erzieherische Ohrfeige versetzen konnte… das konnte ich mir nicht vorstellen!
»Ich glaub nicht mal, daß Hester mich überhaupt mag«, wandte ich
ein; Owen zuckte nur mit den Schultern.
»NUN JA«, sagte Owen Meany, »HESTER WÜRDE DICH NICHT UNBEDINGT DESHALB HEIRATEN, WEIL SIE DICH MAG .«
Und dabei schafften wir es nicht einmal, für Weihnachten eine
Einladung nach Sawyer Depot zu bekommen. Nach zweimal Urlaub in der Karibik
wollten die Eastmans über das Weihnachtsfest 1957 zu Hause bleiben; Owen und
ich schöpften neue Hoffnung, doch – leider – wurde diese schnell wieder
zunichte gemacht; wir wurden nicht nach Sawyer Depot eingeladen. Der Grund,
weshalb die Eastmans dieses Jahr nicht in die Karibik flogen, lag darin, daß
Hester regelmäßigen Briefkontakt mit einem farbigen Bootsmann hatte, der ihr
vorschlug, sie sollten sich doch auf den britischen Jungferninseln treffen;
Hester hatte sich mit diesem farbigen Bootsmann bereits im vorigen Jahr
eingelassen, in Tortola – mit fünfzehn Jahren! Natürlich
Weitere Kostenlose Bücher