Owen Meany
OFT ERZEUGT DIE SONNE AUCH EINE ART SCHEINWERFEREFFEKT, DER UNS
ALLEN DAS GEFÜHL GIBT, WIR HÄTTEN EINE ERHABENE PERSÖNLICHKEIT VOR UNS STEHEN.
OB DIESER EFFEKT WOHL BEABSICHTIGT IST?« fragte ›Die Stimme‹.
Ich muß zugeben, mir gefiel diese Veränderung, wie auch den meisten
anderen Schülern. Die Aula lag im ersten Stock des Hauptgebäudes; man konnte
aus zwei Richtungen in sie gelangen – über zwei große, weit geschwungene
Marmortreppen und durch zwei hohe, breite Doppeltüren. Man brauchte nicht mehr
Schlange zu stehen, um hinein- oder hinauszukommen; und viele von uns waren
dann schon in dem Gebäude, in dem sie ihre erste Schulstunde hatten. Besonders
im Winter war der Weg zur Hurd’s Church, die von allen Klassenzimmern weit
entfernt lag, recht beschwerlich. Doch Owen hielt daran fest, daß der Direktor
eine GROSSE SHOW abzog – und daß Randy
White Rev. Mr. Merrill [462] geschickt in eine
Situation hineinmanövriert hatte, in der sich der Geistliche kaum beschweren
konnte; schließlich hatte er jetzt ein schönes Haus. Wenn diese Aktion, die
Morgenandacht zu verlegen, ein Versuch war, Rev. Mr. Merrill ins Abseits zu
stellen – und wenn Mr. Merrill damit nicht einverstanden war –, so hörten wir
jedenfalls aus dem Mund des schweigsamen Kongregationalisten kein Wort der
Klage darüber; nur ›Die Stimme‹ beschwerte sich.
Doch Randy White war noch in der Aufwärmphase; seine nächste Entscheidung
war es, den obligatorischen Lateinunterricht vom Lehrplan zu streichen – darüber hatten alle (außer den Lateinlehrern) schon seit Jahren gestöhnt. Die
traditionelle Ansicht, daß das Erlernen der lateinischen Sprache hilft, alle Sprachen zu verstehen, teilte außer den Lateinlehrern
kaum jemand. Es gab sechs davon, und drei standen kurz vor der Pensionierung.
White sah voraus, daß dieses Fach in Zukunft nur noch halb so häufig belegt
werden würde (drei Jahre Latein waren bisher Voraussetzung für den
Schulabschluß gewesen); in einem oder zwei Jahren würden die verbliebenen
Lateinlehrer voll ausreichen, und dann konnten weitere Lehrer für die
beliebteren romanischen Sprachen – Französisch und Spanisch – eingestellt
werden. Jubelrufe wurden während der Morgenversammlung laut, als White diese
Änderung ankündigte – in recht kurzer Zeit hatten wir uns daran gewöhnt, die
»Morgenandacht« bei einem anderen Namen zu nennen; White nannte es »Morgenversammlung«, und der neue Name setzte sich schnell durch.
Die Art, wie er den Lateinunterricht ausrangierte, war falsch, fand
Owen.
»GESCHICKT, DASS DER NEUE DIREKTOR EINE SO
GERNGESEHENE ENTSCHEIDUNG TRIFFT – UND WAS KÖNNTE UNS SCHÜLERN LIEBER SEIN ALS
DIE STREICHUNG EINER VORAUSSETZUNG FÜR DIE ABSCHLUSSPRÜFUNG? UND GERADE LATEIN ! ABER DAS HÄTTE
DURCH EINE ABSTIMMUNG ERFOLGEN SOLLEN – IN DER LEHRERKONFERENZ. HÄTTE DER
DIREKTOR DIESE ÄNDERUNG [463] VORGESCHLAGEN, WÄRE
IHM DIE UNTERSTÜTZUNG DES LEHRKÖRPERS SICHER GEWESEN. DER SCHULLEITER HAT
NATÜRLICH AUCH DIE BEFUGNIS, BESTIMMTE ENTSCHEIDUNGEN ALLEINE ZU TREFFEN: ABER
WAR ES NOTWENDIG, DIES AUF SO WILLKÜRLICHE WEISE ZU DEMONSTRIEREN? DIESES ZIEL
HÄTTE ER AUCH AUF DEMOKRATISCHEM WEGE ERREICHEN KÖNNEN; WAR ES NOTWENDIG, DEN
LEHRERN ZU ZEIGEN, DASS ER IHRE ZUSTIMMUNG NICHT BRAUCHT ? UND WAR ES ÜBERHAUPT LEGAL NACH UNSEREM SCHULSTATUT, DASS DER
DIREKTOR DIE VORAUSSETZUNGEN ZUR ABSCHLUSSPRÜFUNG GANZ ALLEINE ÄNDERT?«
Dieser Artikel veranlaßte den Schulleiter, zum ersten Mal bei der
Morgenversammlung vom Rednerpult aus der ›Stimme‹ zu antworten. Wir waren
schließlich ein Zwangspublikum. »Gentlemen«, begann Mr. White. »Ich habe nicht
den Vorteil, jede Woche einen Leitartikel in der Schülerzeitung veröffentlichen
zu können, aber ich möchte die kurze mir zur Verfügung stehende Zeit zwischen
den Liedern und vor unserem Gebet dazu nutzen, um euch über unser gutes altes
Schulstatut zu informieren. Darin steht geschrieben, daß der Lehrkörper keinerlei Weisungsbefugnis gegenüber dem von der Schule
berufenen Direktor, dem ranghöchsten Mitglied des Lehrkörpers, hat. Darin steht
weiterhin geschrieben, daß die Macht des Schulleiters oder Direktors,
Entscheidungen zu treffen, in keiner Weise
eingeschränkt ist. Lasset uns beten…«
Mr. Whites nächste Entscheidung war, den alten Rechtsanwalt der
Schule – einen Einheimischen – durch einen Freund aus Lake Forest zu ersetzen,
den früheren Chef einer Anwaltskanzlei, die erfolgreich eine Klage
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