Owen Meany
ich in ihnen einen Reifeprozeß in
Gang gesetzt habe, doch sie haben jedenfalls mich und meine Kollegen in
Teenager verwandelt. Uns Teenagern wird viel Übles nachgesagt; aber wir würden, zum Beispiel, Präsident Reagan nicht im Amt
lassen.
Im Lehrerzimmer wurde über die Wahlen zur Schülermitverwaltung
gesprochen; die Wahlen waren gestern, und da hatte ich bei der Morgenandacht
eine Art ungeduldige Spannung bemerkt – vor der Wahl der Schülersprecherin. Die
Schülerinnen sangen ihr »Kinder Gottes« mit noch mehr Elan als gewöhnlich; ich
finde es [455] einfach toll, wie sie dieses Lied
singen. Es hat Strophen, die nur die Stimmen junger Mädchen überzeugend
vortragen können.
Brüder, Schwestern, eins wir sind,
unser Leben erst beginnt,
unser Leben als Gotteskind,
ewig soll es währen!
Owen Meany lehrte mich, daß ein gutes Buch immer in Bewegung ist – vom Allgemeinen zum Besonderen, vom Einzelnen zum Ganzen und wieder zurück.
Mit gutem Lesen – und gutem Schreiben über Lesen – verhält es sich genauso. Am
Beispiel von Tess von den d’Urbervilles zeigte mir
Owen, wie ich mein Referat aufbauen sollte, indem ich die Vorfälle, die das
Schicksal von Tess bestimmen, beschrieb und sie mit dem unheilschwangeren
letzten Satz von Kapitel 36 in Verbindung brachte – »sproßt neues Wachstum
unmerklich auf und füllt die leergewordenen Plätze; unvorhergesehene Zufälle
hemmen frühere Vorsätze, und alte Pläne geraten in Vergessenheit«. Es war ein
Triumph für mich: Indem ich mein erstes gutes Referat über ein Buch, das ich
gelesen hatte, schrieb, lernte ich auch, wie man richtig liest. Mit einem
bestimmten technischen Hilfsmittel half mir Owen, besser zu lesen: Er stellte
fest, daß meine Augen im Satz herumstolperten, nach links und rechts wanderten,
und anstatt dem nächsten Wort mit dem Finger zu folgen, sollte ich eine Stelle
der Seite durch einen Papierrahmen besonders hervorheben. Es war ein kleines
Rechteck, ein Fenster, durch das ich lesen konnte; dieses Fenster bewegte ich
über die Seite – es zeigte nie mehr als zwei oder drei Zeilen. So konnte ich
viel schneller und bequemer lesen als mit dem Finger; auch heute noch lese ich
durch ein solches Fenster.
Was meine Rechtschreibung anbelangt, so half mir Owen mehr als Dr.
Dolder. Owen riet mir, Maschinenschreiben zu lernen; eine Schreibmaschine kann
zwar das Problem nicht lösen, aber oft [456] kann
ich bei einem maschinengeschriebenen Wort erkennen, daß es falsch aussieht – wenn ich mit der Hand schreibe, bin ich auch
heute noch eine Katastrophe. Und ich mußte Owen die Gedichte von Robert Frost
laut vorlesen – »MIT MEINER STIMME KLINGEN SIE NICHT SO GUT«. So lernte ich
»Nothing Gold Can Stay« und »Fire and Ice« und »Stopping by Woods on a Snowy
Evening« auswendig; Owen lernte »Birches«, doch das war mir zu lang.
In jenem Sommer 1960 benutzten wir, wenn wir im Baggersee schwammen,
das Seil nicht mehr und gingen auch nicht mehr einzeln ins Wasser – entweder
hatte Mr. Meany kein Interesse mehr daran, auf dieser Regel zu bestehen; oder
er hatte eingesehen, daß Owen und ich keine Kinder mehr waren. Das war der
Sommer, als wir achtzehn waren. Wenn wir im Baggersee schwammen, erschien uns
daran nichts gefährlich; uns erschien überhaupt nichts gefährlich. Das war auch
der Sommer, in dem wir uns ins Wehrpflichtigenregister eintragen mußten; keine
große Sache für uns. Mit sechzehn machten wir den Führerschein; mit achtzehn
meldeten wir uns im Rekrutierungsbüro. Damals erschien uns das nicht
gefährlicher als in Hampton Beach ein Eis zu kaufen.
Sonntags – wenn kein gutes Badewetter war – spielten Owen und ich in
der Turnhalle der Academy Basketball; die Sportveranstaltungen für die
Sommerkursteilnehmer fanden im Freien statt, und an den Wochenenden waren die
so versessen auf den Strand, daß sie auch bei schlechtem Wetter hingingen. Wir
hatten das Basketballfeld ganz für uns allein, und in der Turnhalle war es
angenehm kühl. Nur der alte Hausmeister, der am Wochenende Dienst hatte und uns
von der Schule kannte, war da; er gab uns die besten Basketbälle und saubere
Handtücher, und manchmal ließ er uns sogar im Hallenbad schwimmen – ich glaube,
er war geistig nicht mehr ganz da. Irgendeinen Schaden muß er gehabt haben,
denn es machte ihm regelrecht Spaß, zuzuschauen, wie Owen und ich unsere
blödsinnige Nummer mit dem Basketball übten – den Sprung, das Hochheben und
dann den Dunking.
[457] ȆBEN
Weitere Kostenlose Bücher