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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Tagebuch schrieb, war die
Nacht nach Kennedys Amtseinführung; das war im Januar 1961, und ich bat ihn
immer wieder, doch endlich das Licht auszumachen, doch er schrieb und schrieb,
und ich schlief schließlich bei brennendem Licht ein – ich weiß nicht, wie
lange er noch geschrieben hat. Wir hatten Kennedys Amtseinführung in der Front
Street am Fernseher verfolgt; Dan und meine Großmutter sahen auch zu, und
obwohl meine Großmutter nörgelte, John F. Kennedy sei »zu jung und zu schön« – er sehe aus wie ein »Filmstar«, und er solle doch »einen Hut tragen« – so war
er doch der erste demokratische Präsidentschaftskandidat, dem Harriet [469]  Wheelwright ihre Stimme gab. Dan und Owen und ich
waren begeistert von ihm.
    Es war ein klarer, kalter und windiger Tag in Washington – und auch
in Gravesend –, und Owen machte sich um das Wetter Sorgen. » SCHADE, DASS ES KEIN SCHÖNERER TAG IST «, meinte er.
    »Er sollte sich wirklich angewöhnen, einen Hut zu tragen – so
schlimm ist das auch wieder nicht«, krittelte meine Großmutter. »Bei dem Wetter
wird er sich noch den Tod holen.«
    Als unser alter Freund, Robert Frost, sein Gedicht vortrug, wurde
Owen noch nervöser; vielleicht lag es am Wind, vielleicht tränten Robert Frost
die Augen vor Kälte, oder vielleicht lag es an der Sonne, die ihn blendete,
oder einfach nur daran, daß die Sehkraft des alten Mannes nachließ – jedenfalls
sah er recht schwach aus und konnte sein Gedicht nicht richtig vortragen.
    »Das Land gehörte uns, bevor wir dem Land gehörten«, begann Frost.
Es war das Gedicht »The Gift Outright«, und Owen konnte es auswendig.
    »SOLL IHM DOCH JEMAND HELFEN !« rief
Owen, als Frost mit dem Text Mühe hatte. Jemand versuchte, ihm zu helfen – vielleicht war es der Präsident selbst, oder seine Frau; ich weiß es nicht
mehr.
    Es war jedenfalls keine große Hilfe, und Frost kämpfte sich durch
sein Gedicht. Owen versuchte, ihm zu soufflieren, aber Robert Frost konnte ›Die
Stimme‹ nicht hören – Gravesend war zu weit weg. Owen rezitierte das Gedicht
aus dem Kopf; er konnte sich besser daran erinnern als Robert Frost selbst.
    WAS WIR ZURÜCKHIELTEN, SCHWÄCHTE UNS
    BIS WIR HERAUSFANDEN, DASS WIR SELBST ES WAREN
    DIE WIR ZURÜCKHIELTEN VON UNSEREM LAND,
    UNSEREM LEBEN,
    UND FANDEN UNVERZÜGLICH RETTUNG IN DER
    UNTERWERFUNG.
    [470]  Es war die gleiche
Stimme, die dem Verkündigungsengel souffliert hatte, der acht Jahre zuvor seinen Text vergessen hatte; wieder sprach das Jesuskind
aus der Krippe.
    »DU LIEBER GOTT, KANN IHM DENN KEINER HELFEN?« entrüstete
sich Owen.
    Die Antrittsrede Kennedys ging uns wirklich nahe; Owen Meany war
sprachlos und schrieb bis in die frühen Morgenstunden in sein Tagebuch. Einige
Jahre später – nachdem alles vorbei war – konnte ich lesen, was er geschrieben
hatte; zu der Zeit wußte ich nur, wie aufgeregt er war – wie er spürte, daß
Kennedy sein ganzes Leben verändert hatte.
    »KEIN SARKASMUS-CHAMPION MEHR«, schrieb
er in sein Tagebuch. »KEINEN ZYNISCHEN, NEGATIVEN, KLUGSCHEISSERISCHEN,
PUBERTÄREN SCHEISSDRECK MEHR! ES GIBT EINEN WEG, SEINEM LAND ZU DIENEN, OHNE DASS MAN SICH SELBST ZUM
NARREN MACHT; ES GIBT EINEN WEG, SICH NÜTZLICH ZU MACHEN,
OHNE AUSGENÜTZT ZU WERDEN – OHNE ALTEN MÄNNERN UND IHREN ALTEN VORSTELLUNGEN ZU
DIENEN.« Und noch viel, viel mehr. Er hielt Kennedy für einen
religiösen Menschen, und – unglaublich! – er hatte nichts dagegen, daß Kennedy
Katholik war. » ICH GLAUBE, ER IST EINE ART ERLÖSER «,
schrieb Owen in sein Tagebuch. » ES STÖRT MICH NICHT, DASS ER EIN
MAKRELENFRESSER IST – ER HAT ETWAS, DAS WIR BRAUCHEN.«
    In der Bibelstunde fragte Owen Rev. Mr.   Merrill, ob er nicht auch
    glaube, daß John F. Kennedy » GENAU DER IST, DEN JESAJA SICH VORGESTELLT HAT – SIE WISSEN DOCH, ›DAS VOLK, DAS IM FINSTERN
WANDELT, SIEHT EIN GROSSES LICHT, UND ÜBER DENEN, DIE DA WOHNEN IM FINSTREN
LANDE, SCHEINT ES HELL‹. SIE KENNEN DOCH DIE STELLE?«
    »Nun ja, Owen«, sagte der Pastor vorsichtig, »ich bin sicher, daß
Jesaja Kennedy gemocht hätte; ich weiß allerdings
nicht, ob Kennedy ›genau der ist, den Jesaja sich vorgestellt hat‹, wie du es
ausdrückst.«
    [471]  »›DENN UNS IST
EIN KIND GEBOREN‹«, zitierte Owen, »›EIN SOHN IST
UNS GEGEBEN, UND DIE HERRSCHAFT RUHT AUF SEINEN SCHULTERN…‹ ERINNERN SIE SICH
AN DIE STELLE?«
    Ich erinnere mich daran; und ich erinnere mich auch daran, wie lange
nach der Antrittsrede von Kennedy

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