Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
abgehalten
wurde; also klopften wir nicht und klingelten auch nicht; wir setzten uns auf
ein bequemes, altes Möbelstück – es war kein Sofa, sondern schien eher ein Sitz
aus einem alten Stadtbus zu sein – und lauschten der Sprech- beziehungsweise
der Gesangsstunde, die wir nicht stören durften.
    Die starke, kräftige Stimme eines Mannes ertönte: »Mi-mi-mi-mi-mi-mi-mi-mi!«
    Und eine wahrlich faszinierende Frauenstimme wiederholte: »Mi-mi-mi-mi-mi-mi-mi-mi!«
    Dann sagte der
Mann: »No-no-no-no-no-no-no-no!«
    Und die Frau
wiederholte: »No-no-no-no-no-no-no-no!«
    Und dann sang der Mann einen Vers aus einem Lied – es war aus My Fair Lady: »Nur ein Zimmerchen irgendwo…«
    Und die Frau sang: »Mit ’nem Sofa drin sowieso…«
    Und zusammen sangen sie: »Und Gasbeleuchtung – oh…«
    Und dann sang die Frau allein: »Oh, wäre das nicht wunderschön!«
    »Mi-mi-mi-mi-mi-mi-mi-mi!« sang der Mann
wieder; und jetzt mischte sich ein Klavier ein – nur eine einzige Taste.
    Ihre Stimmen waren, selbst in dieser blöden Übung, die schönsten
Stimmen, die Owen Meany und ich je gehört hatten; selbst wenn sie nur »No-no-no-no-no-no-no-no!« sang, war die Stimme dieser Frau
viel schöner als die meiner Mutter.
    [490]  Ich war froh, daß Owen und ich
warten mußten, denn so konnte ich mich eine Zeitlang wenigstens über diesen
Teil unserer Entdeckung freuen: daß Mr.   McSwiney wirklich ein Sprech- und Gesangslehrer war und daß er offenbar eine ganz tolle Stimme
besaß – und daß er eine Schülerin hatte, die eine bessere Stimme hatte als meine Mutter… das bedeutete jedenfalls, daß ein wenig von dem, was ich über meine Mutter zu wissen glaubte, stimmte.
Den Schock über das, was wir bei Jerrold’s in Erfahrung gebracht hatten, mußte
ich erst noch verdauen.
    Ich hielt die Lüge meiner Mutter über das rote Kleid nicht für eine
niederschmetternde Unwahrheit; es schockierte mich auch nicht so sehr, daß sie
die Tatsache, als Sängerin gearbeitet zu haben – in einem Nachtclub aufgetreten
zu sein! – vor mir und sogar vor Dan (falls er wirklich nichts davon wußte)
geheimgehalten hatte. Was mich schockierte, war meine Erinnerung daran, wie locker und anmutig sie diese
kleine Lüge, daß das Geschäft abgebrannt sei, von sich gegeben hatte, wie überzeugend sie sich solche Sorgen um das rote Kleid
gemacht hatte. Wahrscheinlich, so kam es mir in dem Augenblick vor, konnte sie
besser lügen als singen. Und wenn sie, was das Kleid betraf, gelogen hatte – und keinem Menschen in Gravesend je etwas von der »Lady in Red« gesagt hatte – was mochte sie dann sonst noch für Lügen erzählt
haben?
    Abgesehen davon, daß ich nicht wußte, wer mein Vater war, was gab es sonst noch, das ich nicht wußte?
    Owen Meany, der viel schneller von Begriff war als ich, drückte es
sehr einfach aus; er flüsterte es mir zu, um Mr.   McSwineys Unterricht nicht zu
stören. » JETZT WEISST DU NICHT MAL MEHR, WER DEINE MUTTER IST.«
    Nachdem eine kleine, extravagant gekleidete Dame aus Mr.   McSwineys
Wohnung entschwunden war, durften Owen und ich die verlotterte Bruchbude des
Lehrers betreten; der enttäuschend kleine Busen der davoneilenden Sängerin
stand in krassem Gegensatz zu der kraftvollen Stimme, die wir gehört hatten – doch wir [491]  waren beeindruckt von der
professionellen Unordnung, die uns in Graham McSwineys Studio begrüßte. Das
kleine, quadratische Bad hatte keine Tür, und die Badewanne sah aus, als hätte
sie jemand einfach mittendrin abgestellt, was geradezu komisch wirkte; sie hing
nicht an der Wasserleitung und war voll mit gekrümmten Rohrleitungen,
Rohrschellen und Schrauben – offenbar waren hier Klempnerarbeiten im Gange, und
offenbar kamen sie nur langsam voran.
    Es gab keine Wand (oder sie war herausgerissen worden) zwischen der
kleinen, quadratischen Küche und dem Wohnzimmer, und es gab keine Türen an den
Küchenschränken, in denen sich außer Kaffeetassen nicht viel befand – was
darauf hindeutete, daß sich Mr.   McSwiney entweder ausschließlich von Kaffee
ernährte oder daß er seine Mahlzeiten anderswo einnahm. Und es stand auch kein
Bett im Wohnzimmer – dem einzigen richtigen Raum dieser kleinen, vollgestopften
Wohnung – was darauf hindeutete, daß das mit Notenblättern übersäte Sofa ein
Klappbett war. Die Anordnung der Notenblätter allerdings wirkte sorgfältig und
bedacht, und auch ihre Menge deutete darauf hin, daß dieses Sofa nicht zum
Sitzen benutzt wurde – und

Weitere Kostenlose Bücher