Owen Meany
schon gar nicht zum Schlafen – was erahnen ließ, daß
Mr. McSwiney auch anderswo zu nächtigen pflegte.
Der Raum war mit Andenken übersät – mit Eintrittskarten von
Opernhäusern und Konzerthallen, mit Zeitungsfotos von singenden Menschen, mit
eingerahmten Auszeichnungen und Medaillen an Bändern – es schien, daß goldene
Kehlen genauso wie großartige Leistungen in Sportwettkämpfen geehrt wurden.
Überall hingen eingerahmte, postergroße Zeichnungen von Brustkörben und Hälsen,
klinisch detailliert wie die Zeichnungen in einem Anatomielehrbuch, und so
wahllos in der Wohnung angeordnet wie die lehrreichen Diagramme in einigen
Arztpraxen. Unter diesen anatomischen Zeichnungen hingen wohlmeinende Sprüche,
wie sie begeisterte Sportlehrer in der Turnhalle anbringen:
[492] Mit dem Brustbein anfangen!
Der Bauchraum muß ständig
mit Luft gefüllt sein!
Das Zwerchfell wird nur in eine Richtung gezogen !
Es kann nur einatmen!
Atem- und Gesangsübungen getrennt ausführen!
Schultern nie anheben!
Atem nie anhalten !
Eine ganze Wand war lehrreichen Instruktionen zu den Vokalen
gewidmet; über dem Türrahmen zum Bad hing ein Schild: Sachte! Das beherrschende
Möbelstück der Wohnung, das mitten im Wohnzimmer stand – groß und schwarz und
sorgsam abgestaubt und bestimmt doppelt so teuer wie die Miete, die Mr.
McSwiney im Jahr für sein Studio zahlte – war der Flügel.
Mr. McSwiney hatte eine Vollglatze. Wilde weiße Haarbüschel quollen
aus seinen Ohren hervor – als wollten sie ihn vor seiner eigenen voluminösen
Stimme schützen. Er war ein herzlicher Mann, sechzig (oder vielleicht sogar
schon siebzig), ein kleiner, muskulöser Mann, dessen Brustkorb bis zum Gürtel
hinabreichte – oder dessen runder, harter Bauch den Brustkorb vereinnahmt hatte
und unter seinem Kinn ruhte, wie eine Wampe eines Biertrinkers.
»Also! Wer von euch beiden ist der mit der Stimme?« fragte uns Mr. McSwiney.
»ICH !« sagte Owen Meany.
»Allerdings!« rief Mr. McSwiney aus, der mir kaum Beachtung
schenkte, nicht einmal, als Owen mich nachdrücklich vorstellte und meinen
Nachnamen besonders deutlich aussprach, da wir hofften, der könne dem Sprech-
und Gesangslehrer noch ein Begriff sein.
»DAS IST MEIN FREUND, JOHN WHEELWRIGHT «, sagte Owen, doch Mr. McSwiney konnte es nicht erwarten einen Blick auf [493] Owens Adamsapfel zu werfen; mit dem Namen
»Wheelwright« schien er nichts anfangen zu können.
»Man kann es nennen, wie man will«, meinte Mr. McSwiney.
»Adamsapfel, Larynx, Kehlkopf – es ist der wichtigste Teil des Stimmapparates«,
erklärte er, während er Owen auf seinen »Sängerstuhl«, wie er ihn nannte,
setzte, einen Stuhl mit gerader Rückenlehne, der vor dem Klavier stand. Mr.
McSwiney legte Daumen und Zeigefinger um Owens Adamsapfel. »Schlucken!«
forderte er ihn auf. Owen schluckte. Als ich meinen eigenen Adamsapfel
festhielt und schluckte, konnte ich spüren, wie er im Hals nach oben hüpfte;
Owens Adamsapfel hingegen bewegte sich kaum.
»Und jetzt gähnen!« sagte Mr. McSwiney. Als ich gähnte, wanderte
mein Adamsapfel den Hals hinab, doch der von Owen
blieb fast genau, wo er vorher war.
»Und jetzt schreien!« sagte Mr. McSwiney.
» AAAAAHHHH «, schrie Owen Meany; wieder
bewegte sich sein Adamsapfel kaum.
»Erstaunlich!« sagte Mr. McSwiney. »Du hast eine permanent fixierte
Larynx«, erklärte er Owen. »So was hab ich noch nicht oft gesehen«, meinte er.
»Dein Stimmapparat ist ständig kontraktil – dein Adamsapfel sitzt da oben in
der Position eines permanenten Schreies. Ich könnte
zwar ein paar Übungen mit dir machen, aber du solltest doch besser zu einem
Spezialisten gehen; vielleicht kann man es operieren.«
»ICH WILL NICHT OPERIERT WERDEN, UND ICH WILL AUCH
KEINE ÜBUNGEN MACHEN«, sagte Owen Meany. »WENN GOTT MIR
DIESE STIMME GEGEBEN HAT, DANN HATTE ER EINEN GRUND DAFÜR «, meinte er.
»Und warum hat sich seine Stimme nicht verändert ?«
fragte ich Mr. McSwiney, der wohl gerade eine ironische Bemerkung loslassen
wollte – über den Einfluß Gottes auf die Position des Stimmapparates von Owen.
»Ich dachte, jeder Junge kommt in den Stimmbruch – in
der Pubertät«, sagte ich.
[494] »Wenn er noch keinen Stimmbruch
gehabt hat, dann wird er wohl auch keinen mehr kriegen«, erwiderte Mr.
McSwiney. »Die Stimmbänder formen keine Worte – sie vibrieren nur. Stimmbänder
sind eigentlich keine ›Bänder‹ – es sind nur Lippen. Und die
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