Owen Meany
Öffnung zwischen diesen beiden Lippen heißt ›Glottis‹. Es ist so etwas
wie das Atmen bei geschlossenen Lippen, was einen Ton
hervorruft. Wenn ein Junge in den Stimmbruch kommt, dann ist das nur ein Teil der Pubertät – das nennt man die ›sekundäre
Geschlechtsentwicklung‹. Aber ich glaube nicht, daß sich deine Stimme noch ändern wird«, sagte Mr. McSwiney zu Owen. »Wenn, dann
hätte es schon passieren müssen.«
»DAS ERKLÄRT ABER NICHT, WARUM ICH NOCH KEINEN
STIMMBRUCH GEHABT HABE «, entgegnete Owen Meany.
»Das kann ich nicht erklären«, gab Mr. McSwiney zu. »Ich kann ein
paar Übungen mit dir machen«, wiederholte er. »Oder ich kann dir einen Facharzt
empfehlen.«
»ICH ERWARTE NICHT, DASS SICH MEINE STIMME
ÄNDERT«, meinte Owen Meany.
Ich sah, daß Mr. McSwiney eine Vorstellung davon bekam, wie
enervierend Owens Glaube an Gottes Pläne sein konnte.
»Und warum bist du dann zu mir gekommen, mein Junge?« fragte er ihn.
»WEIL SIE SEINE MUTTER KENNEN .« Dabei
deutete Owen auf mich. Graham McSwiney taxierte mich, als befürchte er eine
Vaterschaftsklage.
»Tabitha Wheelwright«, sagte ich. »Sie wurde Tabby genannt. Sie war
aus New Hampshire, und sie hat vor Jahren ziemlich lange bei Ihnen Unterricht
gehabt – ehe ich geboren wurde und bis ich acht oder neun war.«
»ODER ZEHN «, schaltete Owen sich wieder
ein; seine Hand fuhr erneut in die Tasche – und er reichte Mr. McSwiney das
Foto.
»Die ›Lady in Red‹!« sagte Mr. McSwiney. »Tut mir leid, ich hatte
ihren Namen vergessen«, entschuldigte er sich bei mir.
[495] »Aber Sie erinnern sich an sie?«
fragte ich.
»Natürlich erinnere ich mich an sie«, antwortete er. »Sie war hübsch
und sehr nett – und ich hab ihr diesen dummen Job verschafft. Nichts
Großartiges, aber es hat ihr Spaß gemacht; sie glaubte immer, irgendwann würde
sie von jemandem ›entdeckt‹ werden, wenn sie nur weiter da sang – aber ich hab
ihr immer gesagt, daß in Boston niemand entdeckt wird. Und ganz bestimmt nicht in diesem Nachtclub !«
Mr. McSwiney erklärte uns, daß ihn der Club öfter angerufen hatte
und unter seinen Schülerinnen auf Talentsuche gegangen war; wie die Giordanos
uns bereits gesagt hatten, holte sich der Club bekannte Sängerinnen, die dann
etwa einen Monat lang dort sangen – aber mittwochs hatten die Stars frei; und
für diesen Tag gingen sie auf »Talentsuche«. Meine Mutter hatte es zu einem gewissen
lokalen Bekanntheitsgrad gebracht, und der Club ließ sie jeden Mittwoch singen.
Sie wollte nicht unter ihrem richtigen Namen auftreten – eine Form von Scheu,
oder Provinzialität, die Mr. McSwiney genauso dumm fand wie den Gedanken, sie
könne dort »entdeckt« werden.
»Aber sie war reizend«, sagte er. »Sie sang allerdings nur mit der
Kopfstimme, nie mit der Bruststimme – und sie war faul. Sie wollte einfache,
bekannte Lieder singen, großen Ehrgeiz hatte sie nicht. Und geübt hat sie auch
nicht.«
Er erklärte uns, daß bei der »Kopfstimme« und der »Bruststimme«
verschiedene Muskelgruppen tätig werden; obwohl uns in bezug auf meine Mutter
anderes interessierte, waren wir so höflich, Mr. McSwineys lehrreiche
Ausführungen über sie anzuhören. Die meisten Frauen singen mit dem Kehlkopf in
einer hohen Position, das heißt nur mit dem, was Mr. McSwiney »Kopfstimme«
nannte; vom eingestrichenen e an abwärts haben sie normalerweise
Schwierigkeiten, kraftvoll zu singen – und wenn sie die hohen Töne laut singen wollen, dann klingt es schrill. Die
Entwicklung der »Bruststimme« ist bei Frauen sehr wichtig. Bei [496] Männern ist es die »Kopfstimme«, die entwickelt
werden muß. Beide müssen jedenfalls stundenlang üben.
Meine Mutter, die nur einmal die Woche sang, war laut Mr. McSwiney
»das stimmliche Pendant zu einem Sonntagstennisspieler«. Sie hatte eine hübsche Stimme – wie ich schon gesagt habe – aber Mr.
McSwineys Einschätzung ihrer Stimme stimmte mit meiner Erinnerung an sie
überein; sie hatte keine kräftige Stimme, sie war nie
so mächtig gewesen wie die der Schülerin, die Owen
und ich durch die geschlossene Tür gehört hatten.
»Wer hat sich eigentlich den Namen ausgedacht – ›Lady in Red‹?«
fragte ich den alten Lehrer – um ihn wieder zu unserem Interessensgebiet
zurückzulenken.
»Sie hat sich irgendwo ein rotes Kleid gekauft«, erzählte Mr.
McSwiney. »Sie hat mir gesagt, sie wolle ›einen ganz anderen Typ‹ aus sich
machen – aber nur
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