Owen Meany
New York größer. Doch sie behielt
ihr Apartment in der Fifth Avenue mit allem Drum und Dran; und die
Unterhaltszahlungen beinhalteten die Kosten für ihre jährliche Pilgerfahrt nach
Round Hill, Jamaika – immer zu einer Zeit im Winter, wenn sie mit ihrem Teint
nicht mehr leben konnte – sowie für ein Sommerhäuschen in den Hamptons (da im
Juli und August selbst die Fifth Avenue nicht besonders angenehm war). Eine
Frau von ihrem Format – und die sich mittlerweile an einen bestimmten
Lebensstandard gewöhnt hatte, als Frau von Herb Lish und als Mutter seines
einzigen Sohnes – brauchte ganz einfach Sonne und Meeresluft.
Mehrere Jahre sollte sie eine recht beliebte »Geschiedene« sein;
sich wieder zu verheiraten schien ihr kein dringendes Bedürfnis zu sein – tatsächlich schlug sie ein paar Anträge aus. Aber irgendwann ahnte sie dann
wohl, daß es mit ihrem Aussehen bald nicht mehr weit her sein würde, oder sie
stellte fest, daß es damit bereits nicht mehr weit her war; sie mußte immer
länger vor dem Schminkspiegel sitzen – nur um zu retten, was früher einmal
dagewesen war. Dann änderte sie ihre Taktik; sie ging die Frage einer [521] zweiten Ehe recht aggressiv an; sie merkte, daß
es Zeit wurde. Der arme Kerl, der damals gerade mit ihr zusammen war; ihm wurde
vorgeworfen, er führe sie nur an der Nase herum – und, schlimmer noch, er habe
ihr nie gestattet, sich eine eigene Karriere aufzubauen. Der einzige anständige
Weg, den er noch einschlagen konnte, sei nun, die Frau zu heiraten, die er so
abhängig von sich gemacht hatte – wer auch immer er war. Sie sagte auch, er sei
der Grund, warum sie nie das Rauchen aufgegeben hatte; dadurch, daß er sie
nicht heiratete, hatte er sie so nervös gemacht, daß sie nicht aufhören konnte
zu rauchen. Und ihre ölige Haut, vorher die Schuld ihres Exgatten, war jetzt
die Schuld des gegenwärtigen Liebhabers; wenn sie unansehnlich war, war sie es seinetwegen.
Weiterhin war er der Grund für ihre Depressionen. Wenn er sie nun
verließ – wenn er sie im Stich ließ, wenn er sie nicht heiratete – dann konnte er ihr doch zumindest die
finanzielle Bürde der Kosten für den Therapeuten abnehmen. Schließlich hätte
sie ohne den Ärger, den er ihr bereitete, nie eine Therapie
gebraucht.
Woher – so mag man sich fragen – weiß,
beziehungsweise wußte, ich so viel über die glücklose Mutter meines
Klassenkameraden Larry Lish? Nun ja, die Schüler an der Gravesend Academy – viele jedenfalls – waren abgeklärt; und keiner war so »abgeklärt« wie Larry
Lish. Larry erzählte jedem alles, was er über seine Mutter wußte; das muß man
sich mal vorstellen! Larry fand, seine Mutter sei eine lächerliche Figur. Owen
Meany und ich waren beim Anblick von Mrs. Lish zutiefst erschrocken. Sie trug
einen Pelzmantel, der zahllose Tiere das Leben gekostet hatte. Sie trug eine
Sonnenbrille, die von ihrer Meinung über Owen und mich nichts durchblicken ließ – obwohl wir irgendwie sicher waren, daß sie uns für so provinziell hielt, daß
die Schulausbildung da auch nicht mehr viel wettmachen konnte; wir waren
sicher, Mrs. Lish würde sich eher leidvoll das Rauchen abgewöhnen als sich
einen Abend lang in unserer Gesellschaft zu Tode zu
langweilen.
[522] »HALLO, MRS.
LISH«, sagte Owen Meany. »SCHÖN, SIE
WIEDERZUSEHEN.«
»Hallo!« sagte ich. »Wie geht es Ihnen?«
Sie war eine der Frauen, die nur Wodka-Tonic trinken, weil sie sich
vor Mundgeruch fürchtete; da sie rauchte, sorgte sie sich sehr um ihren Atem.
Heute wäre sie eine der Frauen, die ständig ein atemerfrischendes
Sprühfläschchen bei sich tragen – sie würde sich ständig etwas davon in den
Mund sprühen, den ganzen Tag lang, für den Fall, daß jemand auf den Gedanken
kommen sollte, sie ganz spontan zu küssen.
»Na los, sag’s ihm schon«, drängte Larry
Lish seine Mutter.
»Mein Sohn sagt, du bezweifelst, daß der Präsident andere Frauen
hat«, sagte Mrs. Lish zu Owen. Dabei öffnete sie ihren Pelz – ihr Parfüm
strömte uns entgegen, und wir atmeten es ein. »Na, laß dir gesagt sein«, fuhr
Mitzy Lish fort, »er treibt es ganz schön bunt.«
»MIT MARILYN MONROE?« fragte Owen Mrs. Lish.
»Mit ihr – und mit zahllosen anderen«, entgegnete Mrs. Lish; sie
hatte etwas zuviel Lippenstift aufgetragen – selbst für 1962 – und als sie Owen
Meany anlächelte, konnten wir sehen, daß einer ihrer oberen Vorderzähne mit
Lippenstift beschmiert war.
»WEISS JACKIE
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