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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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hätte nie behauptet, zu »wissen«, was Gott
wollte; in den Gottesdiensten war ihm die Predigt zuwider – in allen Gottesdiensten. Ihm war jeder zuwider, der behauptete,
er »wisse«, was Gott vom aktuellen politischen Geschehen hielt.
    Heute erscheint die Tatsache, daß Präsident Kennedy [516]  körperlichen Kontakt zu Marilyn Monroe und
»zahllosen anderen« – sogar während seiner
Präsidentschaft – pflegte, nur mäßig anstößig und geradezu stilvoll im
Vergleich zu dem bewußten Heimlichkeitsgetue, den Täuschungsmanövern und den
Gesetzesverstößen, die ein wesentliches Element der Politik von Ronald Reagan
darstellen. Die Vorstellung, daß Präsident Reagan es überhaupt – egal mit wem! – treiben könnte, erscheint angesichts dessen, was er ansonsten alles
anrichtet, geradezu eine willkommene und erheiternde Abwechslung. Doch 1962 ist
nicht heute; und Owen Meanys Erwartungen an die Kennedy-Regierung waren
angefüllt mit der Hoffnung und dem Optimismus eines Neunzehnjährigen, der sich
danach sehnte, seinem Land zu dienen – sich nützlich zu machen. Im Frühling zuvor hatte ihn die
Invasion in der Schweinebucht, der Angriff auf Kuba, aus der Fassung gebracht;
doch das war zwar ein Fehler, aber kein Ehebruch gewesen.
    »WENN KENNEDY EINEN EHEBRUCH EINFACH VERDRÄNGEN KANN,
WAS KANN ER DANN SONST NOCH
ALLES BEISEITE SCHIEBEN?« fragte Owen mich.
Dann wurde er böse: »ICH HAB VERGESSEN, DASS ER EIN MAKRELENFRESSER IST!
WENN KATHOLIKEN ALLES BEICHTEN KÖNNEN, DANN KÖNNEN SIE SICH SELBST AUCH ALLES
VERGEBEN! DIE KATHOLIKEN KÖNNEN SICH NICHT MAL SCHEIDEN LASSEN; VIELLEICHT IST
DAS DER HAKEN. ES IST ABARTIG , KEINE
SCHEIDUNGEN ZUZULASSEN!«
    »Sieh es doch mal so«, meinte ich. »Du bist der Präsident der Vereinigten
Staaten; du siehst ganz toll aus. Zahllose Frauen wollen mit dir schlafen – zahllose schöne Frauen sind bereit, alles für dich zu tun. Sogar dazu, mitten
in der Nacht durch den Dienstboteneingang ins Weiße Haus zu schleichen!«
    »DURCH DEN DIENSTBOTENEINGANG?« fragte
Owen.
    »Du weißt schon, was ich meine«, gab ich zurück. »Wenn du wirklich
mit jeder Frau bumsen könntest, die du bumsen wolltest, würdest du es dann
nicht auch tun – oder?«
    »ICH KANN NICHT GLAUBEN, DASS DEINE ERZIEHUNG UND [517]  DEINE AUSBILDUNG NICHTS ALS VERSCHWENDUNG GEWESEN SEIN
SOLLEN«, erwiderte er. »WARUM SOLL
MAN SICH MIT GESCHICHTE UND LITERATUR BEFASSEN – GANZ ZU SCHWEIGEN VON
RELIGION, BIBELKUNDE UND ETHIK? WARUM SOLLTE MAN SICH VON IRGEND ETWAS ABHALTEN
LASSEN, WENN DER EINZIGE GRUND DAFÜR, ETWAS NICHT ZU TUN, DER IST, DASS MAN
DANN ERWISCHT WERDEN KÖNNTE?« fragte er mich. »NENNST DU DAS ETWA MORALISCH? NENNST DU DAS ETWA VERANTWORTUNGSVOLL ? DER PRÄSIDENT
WIRD GEWÄHLT, UM DIE VERFASSUNG ZU WAHREN; ETWAS ALLGEMEINER AUSGEDRÜCKT, ES IST
SEINE AUFGABE, DAS GESETZ ZU WAHREN – ER HAT KEINE ERLAUBNIS, AUSSERHALB DES GESETZES
ZU OPERIEREN, GANZ IM GEGENTEIL, ER SOLLTE UNS EIN VORBILD SEIN!«
    Erinnert sich noch jemand daran? Erinnert sich noch jemand an damals ?
    Ich erinnere mich auch noch daran, was Owen über das »Projekt 100   000 « sagte – ist das noch jemandem ein Begriff? Das war
ein Einberufungsprogramm des Verteidigungsministers Robert MacNamara, im Jahr
1966. Von den ersten 240   000 Soldaten, die zwischen 1966 und 1968 einberufen
wurden, konnten 40   % nicht vernünftig lesen, 41   % waren Farbige, 75   % kamen aus
sozial schwachen Familien, und 80   % hatten keine abgeschlossene Schulausbildung.
»Die Armen Amerikas haben keine Gelegenheit gehabt, sich ihren Anteil am
Wohlstand dieses Landes zu erarbeiten«, sagte MacNamara, »aber nun wird ihnen
die Gelegenheit geboten, der Verteidigung ihres Vaterlandes zu dienen.«
    Da flippte Owen aus.
    »MEINT ER ETWA, ER TUT DEN ARMEN AMERIKAS EINEN GEFALLEN ?« schäumte er. »ER SAGT
DAMIT, IHR BRAUCHT NICHT UNBEDINGT WEISS ZU SEIN – ODER INTELLIGENT – UM ZU STERBEN ! DAS NENN ICH
EINE TOLLE ›GELEGENHEIT‹! ICH WETTE, DIE ARMEN AMERIKAS WERDEN IHM DAFÜR SEHR DANKBAR SEIN!«
    [518]  Toronto, 11.   Juli 1987.
Es ist so heiß, daß ich mir wünsche, Katherine würde mich auf die Insel ihrer Familie
in der Georgian Bay einladen; doch sie hat eine so große Familie, daß sie
sicherlich schon eine gehörige Portion Gäste ertragen muß. Ich habe mir hier
eine schlechte Angewohnheit zugelegt: fast jeden Tag kaufe ich die New York Times. Mir ist nicht ganz klar, warum ich unbedingt
noch irgendwelche zusätzlichen

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