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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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INTERESSANT!«
    Owen erzählte mir nie, was sich tatsächlich während dieser [535]  Sitzungen abspielte. Ich wußte, daß Dr.   Dolder
ein Idiot war; aber ich wußte auch, daß selbst ein Idiot bei Owen auf einige
beunruhigende Dinge stoßen mußte. So zum Beispiel hatte Dr.   Dolder sicherlich
einiges über das Thema »Werkzeug Gottes« gehört; selbst Dr.   Dolder hatte
sicherlich Owens verblüffende und beunruhigende Abneigung gegen die Katholiken
mitbekommen. Und Owens ausgeprägter Hang zum Fatalismus mußte eine wahre
Herausforderung für jeden guten Psychiater sein; ich bin sicher, daß er Dr.
Dolder einen Riesenschreck einjagte. Und war Owen so weit gegangen, Dr.   Dolder
von Scrooges Grab zu erzählen? Hatte er angedeutet, daß er »wußte«, wieviel
Zeit ihm auf dieser Erde noch blieb?
    »Was erzählst du ihm so?« fragte ich Owen.
    »DIE WAHRHEIT«, erwiderte Owen Meany. »ICH BEANTWORTE JEDE FRAGE, DIE ER MIR STELLT, WAHRHEITSGETREU UND
OHNE JEDE IRONIE.«
    »Um Gottes willen!« entfuhr es mir. »Da kannst du aber in Teufels
Küche kommen!«
    »SEHR WITZIG «, gab er zurück.
    »Mensch, Owen«, sagte ich. »Du erzählst ihm alles, worüber du nachdenkst, und alles, was
du glaubst? Aber nicht alles, was du glaubst, oder?«
bohrte ich nach.
    »ALLES «, erwiderte er ungerührt, » ALLES, WONACH ER FRAGT.«
    »Um Himmels willen!« sagte ich. »Und was hat er dazu zu sagen? Was meint er dazu?«
    »ER HAT MIR GESAGT, ICH SOLL MIT PASTOR MERRILL REDEN – ALSO MUSS ICH AUCH NOCH ZWEIMAL DIE WOCHE ZU DEM «, SAGTE OWEN. »UND BEI JEDEM SITZ
ICH DA UND SPRECHE ÜBER DAS, WORÜBER ICH MIT DEM ANDEREN GEREDET HABE. ICH GLAUB, SIE
LERNEN SICH SO GANZ GUT KENNEN.«
    »Verstehe«, sagte ich, doch ich verstand gar nichts.
    Owen hatte alle Kurse von Rev. Lewis
Merrill belegt; er hatte [536]  die Religions- und
Bibelkurse so gierig verschlungen, daß ihm im letzten Schuljahr an der Academy
nichts mehr übriggeblieben war und Mr.   Merrill ihm erlaubt hatte, seine Studien
in diesem Bereich unabhängig vom Unterricht zu betreiben. Owen war besonders am
Wunder der Auferstehung interessiert; ihn interessierten Wunder generell und
das Leben nach dem Tod ganz besonders, und er schrieb ein endloses Referat, in
dem er diese Themen zu Jesaja 5,20 in Beziehung setzte, zu der Stelle, die er
ganz besonders liebte: »Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen.« Owens
Meinung über Pastor Merrill hatte sich positiv verändert gegenüber jenen
früheren Jahren, als der Zweifel des Pastors in Widerspruch zu Owens
dogmatischem Ansatz gestanden hatte; Mr.   Merrill mußte – auf unangenehme Weise – klargeworden sein, welche Rolle ›Die Stimme‹ bei seiner Anstellung als
Schulgeistlicher gespielt hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie sich
in Pastor Merrills Pfarrbüro in der Hurd’s Church beide ganz wohl in ihrer Haut
fühlten; doch schienen sie einander großen Respekt entgegenzubringen.
    Owen übte auf niemanden eine beruhigende Wirkung aus; und Rev. Lewis
Merrill war der unruhigste Mensch, den ich kannte; so stellte ich mir vor, daß
die Hurd’s Church ganz besonders ächzte, wenn sie ihre Sitzungen – oder wie
immer sie es nennen mochten – abhielten. Sie saßen vermutlich beide da und
zappelten herum, und Mr.   Merrill öffnete und schloß die Schubladen seines alten
Schreibtisches, glitt in seinem alten Bürostuhl auf Rollen von einem Tischende
zum anderen – während Owen seine Fingergelenke knacken ließ, in einem fort
seine kurzen Beine verschränkte, mit den Schultern zuckte, seufzte und seine
Hand nach dem Schreibtisch von Rev. Mr.   Merrill ausstreckte, nur um einen
Briefbeschwerer oder ein Gebetbuch hochzunehmen und sofort wieder hinzulegen.
    »Worüber redest du mit Pastor Merrill?« wollte ich von ihm wissen.
    [537]  »MIT PASTOR
    MERRILL REDE ICH ÜBER DR. DOLDER, UND MIT DR. DOLDER REDE ICH ÜBER PASTOR
MERRILL«, sagte Owen.
    »Na gut, aber du kannst doch Pastor Merrill eigentlich ganz gut
leiden – nicht wahr?«
    »WIR REDEN ÜBER DAS LEBEN NACH DEM TOD«, meinte
Owen Meany.
    »Verstehe«, sagte ich, doch ich verstand gar nichts. Ich erkannte
das Ausmaß der Leidenschaft nicht, die Owen für dieses Thema aufbrachte.
    Toronto, 21.   Juli 1987 – in der Stadt herrscht heute eine
Affenhitze. Ich habe mir im gleichen Salon wie immer die Haare schneiden
lassen, unweit der Kreuzung der Bathurst Street mit der St.   Clair Avenue, und
das Mädchen (an weibliche Friseure werde ich

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