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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sie
nicht mit ergebener Ehrfurcht behandelte – als ob es nach Mrs.   Lishs Meinung
nur einen einzigen Grund gäbe, sie nicht zu mögen, nämlich die [530]  Tatsache, daß sie Jüdin war. Owen, so legte Dan
Needham dar, habe nicht einmal gewußt, daß die Lishs
Juden waren.
    »So was weiß man doch!« ereiferte sich der
Schulleiter.
    Dan wies darauf hin, daß diese Bemerkung antisemitischer war als
alle Bemerkungen, die Owen vorgeworfen wurden.
    Und so kam er noch einmal davon; er erhielt eine Verwarnung – mit
der Auflage, daß bis zu den Frühjahrsferien jedweder weitere Verstoß gegen jedwede Regel mit einem
»Verweis von der Schule« geahndet werden würde; in einem solchen Fall würde er
vor den Exekutivausschuß zitiert werden, und keiner seiner Freunde im
Lehrkörper konnte ihn dann noch retten.
    Zusätzlich zu der Verwarnung schlug der Direktor vor, solle Owen
seines Amtes als Chefredakteur der Schülerzeitung The Grave enthoben werden, oder ›Die Stimme‹ solle ein paar Monate lang schweigen oder
beides. Doch dies wurde vom Lehrkörper abgelehnt.
    In Wahrheit war Mrs.   Lishs Vorwurf des Antisemitismus ein Schuß nach
hinten gewesen, weil eine Reihe von Lehrern selbst höchst antisemitisch war.
Und was Randy White betraf: Dan, Owen und ich hegten den Verdacht, daß der
Direktor mit zu den veritabelsten Antisemiten zählte, die wir kannten.
    Und so hatte der Vorfall damit sein Bewenden, daß Owen eine
Verwarnung erhielt; abgesehen von der Gefahr, die dies für ihn bedeutete – für
den Fall, daß er sich sonst noch das Geringste zuschulden kommen ließ – war es
nicht weiter schlimm, zumal er nicht im Internat wohnte. Eigentlich wurde ihm
nur das Privileg entzogen, mittwochs und samstags nachmittags nach Boston zu
fahren; als Internatsschüler hätte er kein Wochenende außerhalb der Schule
verbringen dürfen, aber so verbrachte er ohnehin jedes Wochenende zu Hause – oder bei mir.
    Doch Owen war keineswegs dankbar für die Milde, die die Schule
walten ließ. Er war empört, daß er überhaupt bestraft worden war. Seine
Feindseligkeit wiederum stieß bei den Lehrern auf [531]  keinerlei
Verständnis – auch nicht bei seinen Unterstützern. Sie fanden es großartig, daß
sie sich so milde gezeigt und sich gegen den Schulleiter aufgelehnt hatten;
doch Owen ignorierte sie, wenn er ihnen auf dem Schulgelände begegnete. Er
grüßte niemanden; er schaute nicht mal auf. Er sagte kein Wort mehr – nicht
einmal im Unterricht! – außer wenn er direkt angesprochen wurde; und wenn er
zum Sprechen aufgefordert wurde, waren seine Antworten ganz untypisch kurz. Und
was seine Pflichten als Chefredakteur der Schülerzeitung The
Grave anbelangte, so lieferte er keinen weiteren Beitrag mehr für die
Kolumne, die der ›Stimme‹ zu ihrem Ansehen verholfen hatte.
    »Was ist denn mit der ›Stimme‹ los, Owen?« fragte ihn Mr.   Early.
    »›DIE STIMME‹ HAT GELERNT, DEN MUND ZU HALTEN«, gab
Owen zurück.
    »Owen«, meinte Dan Needham, »du darfst deine Freunde nicht
vergraulen.«
    »›DIE STIMME‹ IST ZENSIERT WORDEN«, erwiderte
Owen Meany. »SAGEN SIE DEN LEHRERN UND DEM DIREKTOR, DASS ›DIE
STIMME‹ ZU TUN HAT – SIE SCHREIBT IHRE ABSCHLUSSREDE NEU! ES KANN MICH WOHL
KEINER WEGEN MEINER REDE BEI DER ABSCHLUSSFEIER VON DER SCHULE JAGEN!«
    So reagierte Owen Meany auf die Bestrafung: indem er dem Schulleiter
und den Lehrern mit der ›Stimme‹ drohte – die, wie
wir alle wußten, nur vorübergehend zum Schweigen gebracht worden war; doch sie
war voller Zorn, da waren wir uns alle sicher.
    Dr.   Dolder, dieser Hohlkopf aus Zürich, schlug dem Lehrkörper vor,
man solle Owen Meany auffordern, mit ihm zu sprechen.
    »Solch eine Feindseligkeit!« sagte Dr.   Dolder. »Er hat doch ein
Talent zur freien Rede, ja? Und jetzt enthält er uns dieses Talent vor, er
versagt sich selbst die Freude, seine Gedanken kundzutun – warum? Ohne diese Ausdrucksmöglichkeit
wird sich seine Feindseligkeit nur verstärken – oder?« meinte Dr.   Dolder. [532]  »Es wäre wohl besser, ihn diese Feindseligkeit
abreagieren zu lassen – an mir !« sagte Dr.   Dolder.
»Schließlich wollen wir nicht noch so einen Vorfall mit einer weiteren älteren Frau. Vielleicht wäre es dann ja die Frau
eines Lehrers ?« sinnierte er.
    Und so teilten sie Owen mit, daß er zum Schulpsychologen mußte.
    »VATER, VERGIB IHNEN, DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE
TUN«, war sein ganzer Kommentar.
    Toronto, 14.   Juli 1987 – warte noch immer

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