Owen Meany
sagte er. »Das ist Vandalismus, das ist
Diebstahl – und eine Schändung! Das ist vorsätzlicher Mißbrauch von
persönlichem, ja sogar heiligem Eigentum.«
Einer der Schüler schrie etwas. »Welches Lied?« brüllte er.
»Was hast du gesagt?« wollte Randy White wissen.
»Welches Lied wir singen sollen!« rief jemand.
»Welches Lied ?« sagten mehrere Schüler – unisono.
Ich hatte nicht gesehen, wie Rev. Mr. Merrill – wahrscheinlich
zitternd – die Bühne erklomm; als ich ihn bemerkte, stand er neben der
gemarterten Maria Magdalena. »Das Lied auf Seite drei-achtundachtzig« sagte
Pastor Merrill laut und deutlich. Der Direktor fuhr ihn an, doch wir konnten
nicht verstehen, was er sagte – die Bänke quietschten zu laut, und einige
Gesangbücher fielen herunter, als wir uns zum Singen erhoben. Ich weiß nicht,
was Mr. Merrill dazu bewogen hat, uns dieses Lied singen zu lassen. Wenn Owen
mir von seinem Traum erzählt hätte, dann wäre mir dieses Lied vielleicht
besonders bedrohlich vorgekommen; [575] aber so
war es einfach nur ein bekanntes Lied – wahrscheinlich wurde es deshalb so oft
gesungen, weil der Ton so siegessicher ist und genau in die Tradition von
»Pilgerfahrt und Konflikt« paßt, die junge Männer oft so inspiriert.
Der Sohn des Herrn zieht in den Krieg, Die Kro-ne zu er-rin-gen
Sein blut-rot Ban-ner führt zum Sieg; Wer hilft ihm beim Ge-lin-gen?
Wer sei-nen Schmer-zens-be-cher leert, Das Leid kann nie-der-rin-gen
Wer tap-fer je-den Feind ab-wehrt, Der hilft ihm beim Ge-lin-gen.
Owen mochte dieses Lied, und wir schmetterten es heraus; wir
sangen viel lauter und auch trotziger als sonst. Der Direktor war buchstäblich
fehl am Platz; er stand mitten auf der Bühne – aber er hatte nichts, hinter das er sich stellen konnte, er stand da wie auf dem
Präsentierteller und wirkte unsicher. Während wir das Lied herausbrüllten,
schien Rev. Lewis Merrill etwas an Selbstvertrauen zu gewinnen – und sogar an
Statur. Obwohl er sich neben der kopflosen Maria Magdalena nicht direkt
wohlzufühlen schien, stand er so nahe neben ihr, daß der Podiumsscheinwerfer
auch ihn beleuchtete. Als wir das Lied beendet hatten, sagte Rev. Lewis
Merrill: »Lasset uns beten. Lasset uns beten für Owen Meany.«
Es war sehr still in der Aula, und obwohl wir die Köpfe gesenkt
hatten, hingen unsere Augen am Schulleiter. Wir warteten darauf, daß Mr.
Merrill anfing. Vielleicht versucht er, einen Anfang
zu finden, dachte ich zuerst; dann wurde mir klar, daß er – ungeschickt wie
immer – gemeint hatte, wir sollten für Owen beten.
Was er gemeint hatte, war, daß wir im Stillen für Owen Meany beten sollten; und
als die Stille immer länger währte, wurde klar, daß Rev. Lewis Merrill nicht beabsichtigte,
uns zur Eile [576] anzutreiben. Er war kein
mutiger Mensch, dachte ich; doch er versuchte, mutig zu sein. Und wir standen
da und beteten; und wenn ich von Owens Traum gewußt hätte, dann hätte ich sehr
viel intensiver gebetet.
Plötzlich sagte der Schulleiter: »Das reicht.«
»T-t-t-tut mir leid«, stotterte Mr. Merrill, »aber ich sage, wann es reicht.«
Ich glaube, in diesem Augenblick wurde Direktor White klar, daß er
verloren hatte; ihm wurde klar, daß er erledigt war. Denn was konnte er tun?
Uns sagen, wir sollten mit dem Beten aufhören? Wir hielten die Köpfe gesenkt;
und wir beteten weiter. So ungeschickt er auch war, hatte Rev. Mr. Merrill uns
doch klargemacht, daß man für Owen Meany nicht lange genug beten konnte.
Nach einer Weile verließ Randy White die Bühne; er war so klug
(vielleicht gebot es ihm sogar sein Anstand), schweigend zu gehen – wir konnten
seine Schritte auf der Marmortreppe hören, und der Schnee auf den Wegen war
noch so verharscht, daß wir sogar hören konnten, wie er draußen vor dem
Hauptgebäude davonging. Als wir bei unserem stillen Gebet für Owen Meany seine
Schritte nicht mehr vernehmen konnten, sagte Pastor Merrill: »Amen.«
O Gott, wie oft habe ich mir gewünscht, diesen Augenblick noch
einmal erleben zu dürfen; damals konnte ich noch nicht sehr gut beten – ich
glaubte nicht einmal an Gebete. Wenn ich die Gelegenheit, für Owen Meany zu
beten, jetzt noch einmal bekäme, dann würde ich es besser machen; jetzt, wo ich
weiß, was ich weiß, könnte ich vielleicht intensiv genug beten.
Natürlich wäre es mir eine Hilfe gewesen, wenn ich sein Tagebuch
hätte lesen können; doch er zeigte es mir nicht – er behielt seine
Tagebucheinträge
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