Owen Meany
für sich. So oft hat er seinen Namen auf die Seiten
geschrieben – seinen vollen Namen – in den riesigen
Großbuchstaben, die er GRABMALSTIL oder GRAVESEND-LETTERN nannte; er hatte so oft seinen
Namen auf diese Weise in sein [577] Tagebuch
geschrieben, wie er ihn auf Scrooges Grabstein gesehen hatte. Und zwar vor dieser ganzen Geschichte mit der US -Army – sogar bevor er von der Schule flog, und
bevor er wußte, daß die Armee seine Fahrkarte durchs College sein würde. Ich
meine, bevor er wußte, daß er sich bei der Armee
verpflichten würde – schon da hatte er seinen Namen so geschrieben, wie man
Namen auf Grabsteinen sieht.
1 LT PAUL
O. MEANY, JR.
So hat er es geschrieben; das hatte der Geist der Zukunft auf
Scrooges Grab gesehen; das und das Datum – auch das Datum stand im Tagebuch. Er
schrieb das Datum viele Male in sein Tagebuch, doch nie sagte er mir, wie es
lautete. Vielleicht hätte ich ihm helfen können, wenn ich das Datum gekannt
hätte. Owen glaubte zu wissen, wann er sterben würde; er glaubte sogar, seinen
militärischen Rang zu kennen – er würde als First
Lieutenant sterben.
Und nach dem Traum glaubte er, noch mehr zu wissen. Die Gewißheit
seiner Überzeugung hat mir immer ein wenig Furcht eingeflößt, und sein
Tagebucheintrag über den Traum bildet keine Ausnahme.
GESTERN BIN ICH VON DER SCHULE GEFLOGEN. LETZTE NACHT
HATTE ICH EINEN TRAUM. JETZT WEISS ICH VIER DINGE. ICH WEISS, DASS SICH MEINE
STIMME NICHT VERÄNDERN WIRD-ABER ICH WEISS NOCH IMMER NICHT, WARUM. ICH WEISS,
DASS ICH DAS WERKZEUG GOTTES BIN. ICH WEISS, WANN ICH STERBEN WERDE – UND JETZT
HAT MIR EIN TRAUM GEZEIGT, WIE ICH STERBEN WERDE. ICH WERDE ALS HELD STERBEN! ICH VERTRAUE DARAUF, DASS
GOTT MIR HELFEN WIRD, DENN WAS ICH TUN SOLL, SIEHT SEHR SCHWIERIG AUS.
[578] 8
Der Finger
Bis zum Sommer 1962 konnte ich es nicht erwarten, endlich
erwachsen und mit dem Respekt behandelt zu werden, der, wie ich annahm, erwachsenen
Menschen grundsätzlich entgegengebracht wird – zu Recht, wie ich hartnäckig
glaubte. Ich konnte es nicht erwarten, endlich die Freiheiten und Privilegien
zu kosten, die die Erwachsenen meiner Meinung nach genossen. Bis zu jenem
Sommer kam mir meine lange Lehrzeit in Sachen Reife hart und erniedrigend vor;
Randy White hatte meinen gefälschten Wehrpaß konfisziert, und ich war noch
nicht alt genug, um mir selbst Bier zu kaufen – ich war noch nicht unabhängig
genug, um mir eine eigene Wohnung oder ein eigenes Auto leisten zu können, und
offenbar fehlte mir das, was Frauen zu sexuellem Entgegenkommen bewegt. Noch
nicht eine einzige Frau hatte ich überreden können! Bis zum Sommer 1962 glaubte
ich, Kindheit und Jugend seien ein Fegefeuer ohne Ende; mit einem Wort, Jugend
war für mich »Scheiße«. Owen Meany hingegen, der zu wissen glaubte, wann und
wie er sterben würde, hatte es mit dem Erwachsenwerden nicht eilig. Und wenn
ich die Jugend als »Fegefeuer« bezeichnete, meinte Owen nur: »ES GIBT KEIN FEGEFEUER – DAS IST EINE ERFINDUNG DER KATHOLIKEN. ES GIBT DAS
LEBEN AUF DER ERDE, ES GIBT DEN HIMMEL – UND ES GIBT DIE HÖLLE.«
»Ich finde, das Leben auf der Erde ist die
Hölle«, entgegnete ich.
»VIEL SPASS IN DEN SOMMERFERIEN«, gab
er zurück.
Es war der erste Sommer, den wir getrennt verbrachten. Eigentlich
sollte ich wohl dankbar für diesen Sommer sein, denn er gab mir eine erste
Vorstellung davon, wie mein Leben ohne Owen sein [579] würde – man könnte sagen, er hat mich darauf vorbereitet. Am Ende jenes Sommers 1962
hatte Owen mich soweit gebracht, daß ich mich vor meiner nächsten Lebensphase
fürchtete. Ich wollte nicht mehr erwachsen werden; ich wollte, daß Owen und ich
für den Rest unseres Lebens Kinder blieben – manchmal erklärt Canon Mackie mir
recht gnadenlos, daß mir das völlig gelungen ist. Canon Campbell, Friede seiner
Seele, hat mir immer gesagt, es sei ein durchaus ehrbares Ziel, sein ganzes
Leben lang Kind bleiben zu wollen.
Ich verbrachte jenen Sommer 1962 in Sawyer Depot damit, für Onkel
Alfred zu arbeiten. Nach dem, was Owen passiert war, wollte ich nicht länger
für das Aufnahmebüro der Gravesend Academy arbeiten und Leute durch die Schule
führen – nie mehr. Die Eastman Lumber Company bot mir einen guten Job an. Es
war eine ermüdende Arbeit im Freien; doch ich konnte die Zeit mit Noah und
Simon verbringen – fast jeden Abend veranstalteten wir Parties am Loveless
Lake, und fast jeden Tag gingen wir dorthin zum Schwimmen und
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