Owen Meany
Rekrutierungsbüro erhielt,
daß ich mich zur Musterung melden sollte, war ich immer noch
nicht sicher, was Owen Meany meinte. »Ruf ihn am besten mal an«, meinte Hester;
wir lasen den Bescheid wieder und wieder. »Du solltest jetzt rauskriegen, was
er meint – und zwar schnell«, sagte sie.
»HAB KEINE ANGST«, Sagte er. »GEH NICHT ZUM REKRUTIERUNGSBÜRO – MACH ÜBERHAUPT NICHTS«, sagte
er. »DU HAST JETZT NOCH EIN BISSCHEN ZEIT. ICH NEHM MIR
URLAUB. ICH KOMME, SO SCHNELL ICH KANN. DU MUSST NUR WISSEN, WAS DU WILLST . WILLST DU NACH VIETNAM?«
»Nein«, sagte ich.
»WILLST DU DEN REST DEINES LEBENS IN KANADA
VERBRINGEN – UND DARÜBER NACHDENKEN, WAS DIR DEIN LAND ANGETAN HAT?«
»So, wie du es jetzt ausdrückst – nein«, meinte ich.
»GUT. ICH BIN BALD DA – HAB KEINE ANGST. HIERZU
BRAUCHST DU NUR EIN BISSCHEN MUT«, sagte Owen Meany.
» Wozu brauchst du nur ›ein bißchen Mut‹?«
wollte Hester wissen.
Es war an einem Sonntag im Mai, als er mich aus dem [698] Grabsteinladen anrief; amerikanische Flugzeuge
hatten gerade ein Kraftwerk in Hanoi bombardiert, und Hester war eben erst von
einer großen Anti-Kriegs-Demonstration aus Washington zurückgekommen.
»Was machst du denn im Grabsteinladen?« fragte ich ihn; er sagte, er
hätte seinem Vater geholfen, der mit den Bestellungen nicht nachkam. Ob ich
nicht mal bei ihm vorbeikommen wolle?
»Treffen wir uns doch an einem schöneren Ort – auf ein Bier«, schlug
ich vor.
»ICH HAB HIER JEDE MENGE BIER«, sagte
er.
Es war seltsam, an einem Sonntag zu ihm ins Grabsteingeschäft zu
gehen. Er war allein an diesem schrecklichen Ort. Er trug eine überraschend
saubere Schürze – und die Schutzbrille hing ihm um den Hals. Im Geschäft roch
es sonderbar – er hatte mir schon ein Bier aufgemacht und trank auch eines;
vielleicht kam der seltsame Geruch vom Bier.
»HAB KEINE ANGST «, sagte Owen zu mir.
»Ich hab eigentlich gar keine Angst«, meinte ich. »Ich weiß nur
nicht, was ich machen soll.«
»ICH WEISS, ICH WEISS «, sagte er; er
legte mir die Hand auf die Schulter.
Irgendwas war anders an der Diamanttrennscheibe.
»Ist der Apparat neu?« fragte ich ihn.
»NUR DIE SCHEIBE«, meinte er. »NUR DIE DIAMANTSCHEIBE SELBST.«
Ich hatte sie noch nie so strahlen sehen; die Diamantsegmente
funkelten geradezu.
»SIE IST NICHT NUR NEU – ICH HAB SIE ABGEKOCHT«, sagte
er. »UND DANN HAB ICH SIE MIT ALKOHOL ABGEWISCHT.« Das war der sonderbare Geruch! dachte ich – Alkohol. Der
Holzblock auf dem Werktisch sah auch neu aus; er hatte keinen Kratzer. » DAS HOLZ HAB ICH AUCH MIT ALKOHOL ABGEWISCHT, NACHDEM ICH ES
ABGEKOCHT HABE«, sagte Owen.
[699] Ich war schon immer
ziemlich langsam; ich bin der ideale Leser! Erst als ich den Krankenhausgeruch
im Laden wahrnahm, wurde mir klar, was er damit gemeint hatte, ich bräuchte NUR EIN BISSCHEN MUT . Hinter der Diamanttrennscheibe
stand eine Arbeitsplatte für Werkzeuge, mit denen Grabsteinkanten geschnitten
und Buchstaben eingraviert werden; auf dieser Platte hatte Owen das sterile
Verbandszeug und das Material für einen Druckverband gelegt.
»NATÜRLICH IST ES DEINE ENTSCHEIDUNG «,
sagte er.
»Natürlich«, sagte ich.
»NACH DER ENTSPRECHENDEN ARMEEVORSCHRIFT GILT EINE
PERSON ALS UNTAUGLICH, WENN DAS ERSTE GLIED EINES DAUMENS ODER DIE ERSTEN BEIDEN GLIEDER VON EINEM ZEIGE-, MITTEL-
ODER RINGFINGER FEHLEN. ICH WEISS, DASS ZWEI GLIEDER RECHT VIEL SIND«, meinte
Owen Meany. »ABER DEN DAUMEN BRAUCHST DU DOCH GANZ.«
»Ja«, sagte ich.
»ES IST KLAR, DASS MITTEL- ODER RINGFINGER ETWAS
SCHWIERIGER FÜR MICH SIND: ICH MEINE, ES IST SCHWIERIGER FÜR DIE TRENNSCHEIBE, SO PRÄZISE ZU SEIN, WIE ICH ES GERNE SEIN
MÖCHTE – BEI MITTEL- ODER RINGFINGER. ICH MÖCHTE DIR GERNE VERSPRECHEN, DASS
ICH KEINEN FEHLER MACHE. DIESES VERSPRECHEN FÄLLT MIR LEICHTER, WENN ES DER
ZEIGEFINGER IST.«
»Verstehe«, sagte ich.
»IN DER ARMEEVORSCHRIFT STEHT NICHTS ÜBER RECHTS-
ODER LINKSHÄNDER – ABER DU BIST DOCH RECHTSHÄNDER, ODER ?« fragte
er mich.
»Ja«, sagte ich.
»DANN SOLLTE ES DER RECHTE ZEIGEFINGER SEIN – UM GANZ
SICHERZUGEHEN«, meinte er. »ICH MEINE,
MIT DEM RECHTEN ZEIGEFINGER DRÜCKT MAN SCHLIESSLICH AUF DEN ABZUG.«
[700] Ich erstarrte. Er ging
zum Werktisch unter der Diamanttrennscheibe und machte mir vor, wie ich die
Hand auf den Holzblock legen sollte – ohne das Holz zu berühren; wenn er es
berührt hätte, dann wäre es seiner Meinung nach nicht mehr steril gewesen. Er
ballte die
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