Owen Meany
ich
mich nicht manchmal, meinte er weiter, ob es nur das Marihuana war, das uns
viele Dinge bewußter wahrnehmen ließ?
» WELCHE DINGE DENN ZUM BEISPIEL?« hätte Owen Meany gefragt.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie aggressiv die sogenannten
Blumenkinder waren – ja, von Selbstgerechtigkeit erfüllter Einsatz für den
Frieden, genau wie für jede andere Sache, ist aggressiv.
Und die mystische Verschwommenheit in ihrem Denken – die ist mir auch noch gut
in Erinnerung; und wie sie mit Pflanzen sprachen. Und ich weiß noch, daß damals – außer bei Owen Meany und den Beatles – Ironie etwas höchst Seltenes war.
Das ist auch der Grund für Hesters Scheitern als Sängerin und
Songwriter – sie besaß keinen Funken Ironie. Vielleicht ist das auch der Grund
dafür, daß sie jetzt so großen Erfolg hat: die Richtung, in die sie sich
musikalisch entwickelt hat, vom Folk zum Rock, und die visuelle Unterstützung
durch die furchtbaren Videoclips – diese phantasielosen, billig gemachten
Aneinanderreihungen von »Bildern«, die auf den einschlägigen TV -Kanälen [704] rund
um die Welt den Text ersetzen – machen Ironie überflüssig. Lediglich der Name,
den Hester sich gab, spiegelt die Ironie wider, mit der sie einst auf so
vertrautem Fuß stand – in ihrer Beziehung zu Owen Meany. Als Folksängerin war
sie Hester Eastman – ein ernsthafter Niemand, ein Flop. Als alternder
Hard-Rock-Star hingegen, als verblühende Königin der härtesten, schärfsten Art
des Rock ’n’ Roll, nennt sie sich Hester the Molester !
»Wer hätte das gedacht«, meinte Simon, »daß ›Hester the Molester‹
mal für jeden ein Begriff sein wird. Das Miststück müßte mir Provision zahlen, schließlich
hab ich den Namen erfunden!«
Daß Hester the Molester eine Kusine von
mir ist, verhilft mir bei meinen Schülerinnen zu besonderem Ansehen; ansonsten
bin ich für sie vor allem pedantisch und mürrisch, ein griesgrämiger Typ mit
kurzgeschnittenen Haaren in Kord- oder Tweedhosen, auffällig lediglich durch
meine politischen Ausbrüche und meine unschöne Angewohnheit, mir mit dem
Stummel meines amputierten Zeigefingers die Pfeife zu stopfen. Warum sollte ich
das nicht tun? Mein Finger paßt schließlich genau in den Pfeifenkopf; wir
Behinderten müssen lernen, das Beste aus unseren körperlichen Gebrechen und
Mißbildungen zu machen.
Wenn Hester ein Konzert in Toronto gibt, gehen ihre
hingebungsvollsten Fans unter meinen Schülerinnen stets mich um Karten dafür an; sie wissen, daß ich schon einige davon besorgen kann. Und
Hesters seltene Konzerte hier bei uns in Begleitung solch attraktiver junger
Mädchen zu besuchen, gibt mir die Möglichkeit, mich unbemerkt in die Horde
hemmungslos herumtobender Rowdies einzuschleusen; als Begleiter dieser Mädchen
zu ihren Konzerten zu kommen, läßt mich außerdem auch in Hesters Augen ziemlich
»cool« erscheinen.
»Es gibt doch noch Hoffnung für dich«, sagt meine Kusine [705] jedesmal zu mir, wenn meine Schülerinnen in ihre
schmuddelige Garderobe hinter der Bühne drängen – und es ihnen beim Anblick von
Hester in ihrer typischen, aufreizend zerzausten Aufmachung vor Ehrfurcht die
Sprache verschlägt.
»Das sind meine Schülerinnen «, rufe ich
Hester in Erinnerung.
»Laß dich davon nicht abhalten«, empfiehlt sie mir. Und an eine oder
mehrere meiner Schülerinnen gewandt erklärt sie jedesmal: »Wenn ihr
irgendwelche Probleme von wegen ›safer sex‹ habt, solltet ihr es mal mit ihm versuchen –«, und legt dann ihre schwere Pranke auf
meine Schulter. »Er ist nämlich noch Jungfrau«, erläutert sie den Mädchen, » safer geht es nicht!«
Und sie kichern albern über diesen Witz – sie meinen, es wäre
tatsächlich nur ein Witz, genauso unverschämt, wie sie es von Hester the Molester erwarten. Ich bin sicher, sie halten es
für ausgeschlossen, daß Hesters Behauptung, ich sei noch Jungfrau, wahr sein könnte!
Hester weiß, daß es wahr ist. Ich verstehe nicht, warum sie daran
Anstoß nimmt. Nach so vielen erniedrigenden Jahren voller Versuche, meine
Jungfräulichkeit loszuwerden, an der niemand außer mir auch nur das geringste
Interesse zu haben schien – denn so gut wie niemand zeigte sich gewillt, sie
mir zu nehmen –, entschied ich, daß meine Jungfräulichkeit auf lange Sicht nur
dann etwas Schätzenswertes war, wenn ich sie behielt. Ich glaube nicht, daß ich
ein »nicht praktizierender Homosexueller« bin, was immer das bedeuten mag. Mit
mir ist
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