Owen Meany
von Owen, erschienen
mir bedrohlich.
Mehr als 385 000 Amerikaner waren in Vietnam, und fast 7000
Amerikaner waren dort umgekommen; es schien mir angebracht, auf sie anzustoßen.
Als Hester von ihrem SONNIGEN ORT wieder
zurück war, verkniff ich mir einen Kommentar zu ihrer fehlenden Bräune. Es gab
mehr Proteste, mehr Demonstrationen; sie bat mich nicht, sie zu begleiten, wenn
sie dorthin ging. Doch sie erlaubte niemandem, die Nacht mit ihr in unserer Wohnung
zu verbringen; wenn wir über Owen redeten, sprachen wir darüber, wie sehr wir
ihn liebten.
»Wenn ich so darüber nachdenke, wie sehr du ihn liebst und was du
wohl von mir hältst, frag ich mich manchmal, ob du überhaupt jemals gebumst werden wirst«, meinte Hester zu mir.
»Ich könnte mich der ›Friedensbewegung‹ anschließen«, sagte ich.
»Weißt du, ich könnte einfach ein bißchen zerstreut aussehen – wenn ich wütend
aussehe, ist es auch nicht schlecht – und ständig sagen, daß ich ›gegen den
Krieg‹ bin. Persönlicher Zorn – das ist der Schlüssel! Ich könnte in meine Wut
›persönlichen Zorn auf den Krieg‹ einbringen – und ruckzuck werd ich gebumst!«
Hester verzog keine Miene.
»Das hab ich schon mal gehört«, meinte sie.
Ich schrieb Owen, daß ich mir Thomas Hardy als Thema für meine
Magisterarbeit ausgesucht hatte; ich glaube nicht, daß es ihn überraschte. Ich
erzählte ihm auch, daß ich lange über seinen Rat nachgedacht hatte: daß ich den
Mut aufbringen müsse, eine Entscheidung zu treffen, was ich tun würde, wenn meine
Zurückstellung hinfällig war. Ich versuchte, mir darüber klarzuwerden, was für
eine Entscheidung ich möglicherweise treffen würde – ich kam auf keine sehr
befriedigende Lösung; und ich überlegte, was er wohl unter dem MUT verstand, der von mir gefordert würde. Abgesehen
von der Entscheidung, nach Vietnam zu gehen, [696] schienen
mir die anderen Entscheidungsmöglichkeiten keinen besonderen Mut zu fordern.
»Du sagst mir ständig, daß ich keinen Glauben habe«, schrieb ich
Owen. »Merkst du nicht, daß das zum Teil der Grund ist, warum ich mich so
schlecht entscheiden kann? Ich warte ab, was als nächstes passiert –, weil ich
nicht glaube, daß irgendwas, das ich entscheiden könnte, etwas ausmacht. Du kennst doch sicher Hardys Gedicht Hap ? Dir ist natürlich auch klar, was das Gedicht für uns
bedeutet: Du glaubst an Gott, aber ich glaube an den Zufall – an das Glück. Genau darauf will ich hinaus. Was nützt es, wenn ich die Entscheidung treffe, von der du
ständig redest? Was nützt Mut – wenn das, was passiert, eh dem Zufall
überlassen bleibt?«
Owen Meany schrieb mir zurück: » SEI NICHT SO
ZYNISCH – NICHT ALLES IST ›DEM ZUFALL ÜBERLASSEN‹. DU MEINST, DASS DAS, WAS DU
ENTSCHEIDEST, NICHTS AUSMACHT ? ICH ERZÄHL DIR WAS VON DEN
LEICHEN. ANGENOMMEN, DU HAST GLÜCK – ANGENOMMEN, DU BRAUCHST NIE NACH VIETNAM
ZU GEHEN, ANGENOMMEN, DU KRIEGST NIE EINEN SCHLIMMEREN JOB ALS MEINEN. DU MUSST IHNEN SAGEN, WIE SIE DIE
LEICHEN INS FLUGZEUG VERLADEN MÜSSEN, UND WIE SIE SIE RAUSTRAGEN MÜSSEN – DER
KOPF MUSS IMMER HÖHER ALS DIE FÜSSE LIEGEN. ES IST GANZ SCHÖN ÜBEL, WENN
FLÜSSIGKEITEN DURCH DIE KÖRPERÖFFNUNGEN AUSTRETEN – WENN ES NOCH
KÖRPERÖFFNUNGEN GIBT.
DANN IST DA DER BESTATTER. WAHRSCHEINLICH HAT ER DEN
TOTEN NICHT GEKANNT. SELBST WENN MAN DAVON AUSGEHT, DASS ES EIN GANZER KÖRPER
IST – SELBST WENN MAN DAVON AUSGEHT, DASS ER NICHT VERBRANNT IST, NOCH EINE
NASE HAT UND SO WEITER – KEIN MENSCH WEISS, WIE DIESER KÖRPER FRÜHER AUSGESEHEN HAT.
DIE LEICHENBETREUER DRÜBEN IN VIETNAM SIND NICHT GERADE BERÜHMT FÜR IHRE
GENAUIGKEIT. WIRD DIE FAMILIE ÜBERHAUPT GLAUBEN, DASS ER ES IST? ABER WENN DU DER FAMILIE
SAGST, DASS DIESE LEICHE NICHT ›ZUM [697] ANSCHAUEN
GEEIGNET‹ IST, WIE VIEL SCHLIMMER MUSS ES DANN FÜR SIE SEIN – DIE VORSTELLUNG,
WAS FÜR EIN FÜRCHTERLICHES DING DA UNTER DEM SARGDECKEL LIEGT. UND WENN DU DANN ZU IHNEN SAGST
›NEIN, SIE SOLLTEN DIE LEICHE BESSER NICHT ANSCHAUEN‹, DANN MÖCHTEST DU DESHALB
AM LIEBSTEN GLEICHZEITIG SAGEN: ›HÖREN SIE, SO SCHLIMM IST ES AUCH WIEDER NICHT.‹
UND WENN DU SIE DIE LEICHE SEHEN LÄSST, DANN MÖCHTEST DU AM LIEBSTEN NICHT
DABEISEIN. DAS IST ALSO EINE ZIEMLICH SCHWIERIGE ENTSCHEIDUNG. UND DU MUSST AUCH EINE ZIEMLICH
SCHWIERIGE ENTSCHEIDUNG TREFFEN – ABER SO SCHWIERIG IST SIE AUCH WIEDER
NICHT, UND DU SOLLTEST DICH LANGSAM BEEILEN.«
Im Frühling 1967, als ich einen Brief vom
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